Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
sympathischen jungen Kaders der KP auf die Dachterrasse im siebzigsten Stock eines Shanghaier Hotels, wo er mir nachts bei französischem Wein von der seiner Meinung nach unverändert zentralen Bedeutung des Marxismus für China erzählt hat.
GENSCHER
Ich wurde Ende 1973 nach Peking eingeladen. Damals war ich Innenminister. Aber die Chinesen gingen davon aus, dass ich im folgenden Jahr 1974 und der sich abzeichnenden Wahl von Walter Scheel zum Bundespräsidenten sein Nachfolger als Parteivorsitzender und Außenminister werden würde. Offenbar wollten sie mich kennenlernen und wohl auch Maß nehmen. Mehrere Stunden wurde ich von Tschou En-Lai zum Gespräch empfangen. Ein eindrucksvoller Mann! Ein Staatsmann! Später traf ich wiederholt mit Deng Xiaoping zusammen. Ein völlig anderer Typ, aber von gleicher Autorität, Weitsicht und Klarheit. Ihn fragte ich Ende der achtziger Jahre, aber noch vor dem Fall der Mauer, was er von Gorbatschow und seiner Politik halte. Seine Antwort: Die Politik der Öffnung sei richtig, aber die Reihenfolge sei falsch. »Welche Reihenfolge meinen Sie?« Seine Antwort: »Wenn Sie eine sozialistische Wirtschaft in eine Marktwirtschaft umwandeln wollen, dann brauchen Sie einen starken Staat. Deshalb muss die Reform bei der Wirtschaft beginnen.« Für mich hieß das, die politischen Reformen sollten der zweite Schritt sein. Oft habe ich danach an dieses Gespräch denken müssen.
LINDNER
Die Wirtschaftsreformen sind dem gesellschaftlichen Öffnungsprozess in China inzwischen weit vorausgeeilt. Dennoch kann man würdigen, dass es auch in der Rechtsstaatsentwicklung Fortschritte gegeben hat, wenngleich bis zu europäischen Standards noch ein weiter Weg ist. Um wieder auf das Dreieck USA , China und Europa zurückzukommen: Wenn wir über eine Intensivierung des transatlantischen Verhältnisses sprechen, dann meine ich damit auch keine Frontbildung gegen andere, sondern eine Vertiefung wie durch eine Freihandelszone, die Vorbild für andere Formen übergreifender Zusammenarbeit sein kann. Ganz im Gegenteil sollten einer solchen Freihandelszone über den Atlantik rasch weitere multilaterale Abkommen folgen, damit sich nicht wieder Handelsblöcke bilden. So ist doch die Europäische Union nicht »gegen« andere gerichtet, sondern sie ist Modell für die Verständigung eigentlich unterschiedlicher Partner.
GENSCHER
Die Rivalitätsordnung des 19 . und der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts in Europa setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der damaligen Rivalität des amerikanisch-sowjetischen Bipolarismus des Kalten Krieges fort. Die Revolution, die in der militärischen Nutzung der Nuklearenergie lag, zwang Atomwaffenbesitzer – vor allem die USA und die UDSSR – aus Gründen der Selbsterhaltung zu einer wenn auch beschränkten sicherheitspolitischen Kooperation. In den entscheidenden Stunden der Kubakrise, als die Welt am Rande eines Atomkrieges stand, setzte sich die Philosophie einer gemeinsamen Überlebensstrategie der beiden nuklearen Supermächte durch. Moskau stoppte die Aufstellung von Nuklearraketen in Kuba und führte schon angelandetes Material zurück. Die USA wiederum verzichteten auf die gerade beginnende Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Italien und in der Türkei.
Heute, Herr Lindner, gehört zu den Selbsttäuschungen des Westens die Feststellung, nachdem das 20 . Jahrhundert ein europäisch-amerikanisches gewesen sei, werde nun das 21 . Jahrhundert das asiatische sein. In Wahrheit ist die Welt in eine völlig neue Phase ihrer Entwicklung eingetreten. Wenn in der Vergangenheit von Weltmächten geredet wurde, so waren es immer Mächte, die weltweit betrachtet die stärksten waren, aber die deshalb keineswegs die Welt zur Gänze beherrscht hätten. So kann man auch jetzt sagen, dass die USA und Europa niemals die ganze Welt beherrschten, und auch Asien wird das im 21 . Jahrhundert nicht tun. Das Revolutionäre und Neue ist, dass das 21 . Jahrhundert das erste globale Jahrhundert der Menschheitsgeschichte sein wird. Überall in der Welt melden sich politische und ökonomische Kraftzentren zu Wort und entfalten ihre Wirkung. Das verlangt eine globale Kooperation mit der Anerkennung der Gleichberechtigung und der Ebenbürtigkeit aller Akteure dieser neuen Weltgesellschaft. Die Vorstellung von der Dominanz der einen oder anderen Region würde die Stabilität dieser neuen Weltordnung infrage stellen. Die europäischen Erfahrungen des 18 ., 19 . und der
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