Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
mit dem arabischen Raum zu intensivieren – das ist eine Aufgabe, die vergleichbar ist mit der Begleitung des Transformationsprozesses in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Dieselbe Aufmerksamkeit verdient jetzt diese Weltregion, wenn wir unsere Grundwerte vermitteln und unsere Interessen – ich spreche das bewusst gemeinsam an – vertreten wollen. Wenn die Transformation dort gelingt, dann öffnen sich neue dynamisch wachsende Märkte und dann wächst die Hoffnung auf dauerhaften Frieden. Wenn sie scheitert – nicht auszudenken, was passiert, wenn sich die Erwartung der vielen Millionen »zornigen jungen Männer« – wie Peter Sloterdijk gesagt hat – nicht erfüllt, dass sie nun am Wohlstand teilhaben. Dann werden diese Gesellschaften sich radikalisieren, dann setzt eine ungeheure Migration ein.
GENSCHER
Wir müssen uns auf einen Einwand gefasst machen. Das auf Dialog aufbauende europäische Modell hat Ahmadinedschad in Teheran und Assad in Damaskus nicht wirklich beeinflusst. In Marokko, Tunesien und Ägypten muss man deshalb zunächst einmal Stabilität erreichen. Wir sollten unsere Erwartungen an den Fortschritt an das Mögliche anpassen. Völlig richtig ist, was Sie über Chancen und Risiken gesagt haben: Wenn diese Länder sich radikalisieren und die inneren Unruhen zunehmen, dann hat das unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Region und auf uns. Ein instabiles Libyen, das bedeutet Migration nach Europa. Und andererseits, wenn diese Staaten sich entwickeln – nicht nach europäischem Muster eins zu eins, aber wenn zivilisatorischer Fortschritt entsteht, wenn sich langsam eine Bürgergesellschaft herausbildet – dann gewinnen wir Partner, dann gehen von dort Signale in andere Weltregionen aus.
LINDNER
Damit dort die Wünsche nach Verbesserung der Lebensbedingungen erfüllt werden können, müssen wir unsere Märkte öffnen. Wir müssen ihnen eine Chance geben, in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft ihren Beitrag zu leisten. Und wir müssen in Europa Unternehmen ermuntern, auch in diese Staaten zu investieren. In Ägypten ist die deutsche Automobil-Zulieferindustrie bereits engagiert.
GENSCHER
Auf eine Diskussion, »soll man mit denen kooperieren, ja oder nein« sollte man sich nicht einlassen. Diskussions- oder Kooperationsverweigerung bedeutet Stillstand und Rückschlag. Manches erinnert mich auch an die Kritik an der so erfolgreichen früheren Ostpolitik. Für das zentrale Gegenargument halte ich, dass eigene Ideen und eigene Aktivitäten immer Auswirkungen auf das Verhalten des anderen haben. Selbst wenn die andere Seite ablehnt, ist sie vorher gezwungen gewesen, sich gedanklich mit einem Vorschlag zu befassen. Davon bleibt auf lange Sicht niemand unbeeindruckt.
Die KSZE – ein Modell
LINDNER
Ich möchte das aufnehmen und fragen, ob nicht der KSZE -Prozess ein Vorbild für den Nahen und Mittleren Osten sein könnte?
GENSCHER
Das ist schon wiederholt ins Spiel gebracht worden. Auch für den Mittelmeerraum. Auch von mir. Die europäischen Staaten sollten als Europa am Tisch sitzen, also mit einer Stimme sprechen. Denn für uns Europäer ist das Mittelmeer nichts Trennendes, sondern es verbindet uns. Im Grunde ist Deutschland als Mitglied der EU , wenn Sie so wollen, Mittelmeeranrainer. Deshalb ist es so bedeutsam, dass wir uns auch damit befassen, wie sich die dortigen Konflikte auflösen lassen. Damit meine ich nicht nur israelisch-palästinensische Streitfragen, sondern auch solche innerhalb des Islam oder der arabischen Länder. Was das angeht, bin ich vollkommen Ihrer Meinung. Es ist mehr Aktivität, mehr Ideenreichtum notwendig. Im Grunde brauchen wir eine Belebung auch der außenpolitischen Debatte bei uns; wenn ich denke, welche leidenschaftlichen Auseinandersetzungen wir geführt haben über die Westintegration, über den NATO -Doppelbeschluss, über die Ostpolitik, über die KSZE – und heute geht es um nicht minder hochpolitische Fragen. Nur finden darüber leider keine wirklichen Debatten statt.
LINDNER
In diesem Zusammenhang sehe ich auch eine Debatte über die Entwicklung des Völkerrechts. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat 2005 beschlossen, dass sie sich in einer Situation schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich fühlt, wenn der zuständige Staat die Menschen nicht schützen kann oder gar an Verbrechen beteiligt ist. Die Schutzverantwortung –
responsibility to protect
– halte ich für eine tiefgreifende und zu
Weitere Kostenlose Bücher