Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
fand, während andere aus seiner Partei Kritik geübt haben. Um es für mich persönlich klar zu sagen: Ich habe die Entscheidung für eine Enthaltung nicht gutgeheißen. Erstens gab es eine akute Bedrohung von Menschenleben. Diese massiven Menschenrechtsverletzungen mit folgender politischer Instabilität haben zweitens in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattgefunden – wir hatten also auch Interessen. Drittens gab es mit der sich formierenden Opposition einen Ansprechpartner für einen Regimewechsel. Das ist der Unterschied zu Afghanistan. Da musste die Opposition fast erfunden werden. Und viertens waren alle unsere traditionellen Partner und Freunde, die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, für die Wahrnehmung von Schutzverantwortung. Diese Entscheidung im Sicherheitsrat sollte kein Präzedenzfall für die Zukunft sein. Im Gegenteil habe ich ja Kriterien angedeutet, anhand derer man zukünftig diskutieren sollte.
GENSCHER
Was die Libyen-Entscheidung des Sicherheitsrats anging, so kann die deutsche Haltung sicher hinterfragt werden, oder, um es noch deutlicher auszudrücken, sie muss hinterfragt werden.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich allerdings auch einiger nassforscher Erklärungen bei Beginn des Irakkrieges 1991 . Diejenigen, die damals eiferten, hatten übersehen, dass in diesem Zeitpunkt die Sowjetunion, die zu den Signatarstaaten des Zwei-plus-Vier-Vertrages gehörte, diesen Vertrag noch nicht ratifiziert hatte, das heißt ihre definitive Zustimmung zur deutschen Vereinigung war noch nicht rechtskräftig. Eine deutsche Teilnahme an der Intervention gegen den Irak, die über das damals beschlossene Maß hinausging, hätte Gefahren für diesen für uns lebenswichtigen Vertrag heraufbeschworen.
LINDNER
Zu Deutschlands Verantwortung in Europa und der Welt gehören auch militärische Einsätze. Meine Generation hat mit dem Jugoslawienkrieg zum ersten Mal erlebt, dass sich deutsche Soldaten an einer militärischen Auseinandersetzung beteiligen.
GENSCHER
Die Jahre seit der Vereinigung, das heißt seit Ende des Kalten Krieges, sind bestimmt durch tastende Versuche, der neuen globalen Situation, aber auch der Verantwortung des vereinten Landes gerecht zu werden. Es geht also nicht um die verhängnisvolle These: Wir sind wieder wer, sondern es geht für uns wie für alle anderen Völker darum, dass wir unserer Rolle gerecht werden, die einer neuen Weltordnung entspricht, die gegründet ist auf Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der Völker und Regionen. Das heißt, das Entstehen der neuen Weltordnung schafft einen neuen Handlungsrahmen nicht nur für die Deutschen, sondern für alle Staaten in der Welt. Insofern sind diejenigen auf einem Abweg gewesen, die nach der Vereinigung für unser Land verlangten, wir müssten »endlich Verantwortung übernehmen«. Wir müssten herunter von der Tribüne und zu Akteuren werden. So als hätte die Bundesrepublik Deutschland eine solche Verantwortung vorher nicht getragen und nicht erfüllt. Hatte Deutschland nicht eine große Verantwortung übernommen, indem es mit den anderen fünf die Europäische Gemeinschaft gründete? Hatte Deutschland nicht innerhalb der NATO unter den europäischen Partnern den größten Beitrag für die gemeinsame Sicherheit übernommen? Und hatte Deutschland nicht mit seiner Politik der Ostverträge und mit seiner entscheidenden Rolle im KSZE -Prozess den wichtigsten Beitrag für die Überwindung des Kalten Krieges geleistet?
Nicht die deutsche Vereinigung ist primär der Grund für ein Überdenken unserer Rolle, sondern die Veränderung der Weltlage durch das Ende des Kalten Krieges, also die Entstehung einer neuen globalen Ordnung, die es jetzt nach den gemeinsamen Grundwerten zu gestalten gilt. Die Herausforderung ist es also, der Rolle Deutschlands und Europas in einer neuen Weltordnung gerecht zu werden und nicht einer Sonderrolle des vereinten Deutschlands. Dieser Maßstab ist bei jeder einzelnen Entscheidung innerhalb der Europäischen Union und innerhalb des westlichen Bündnisses und innerhalb der globalen Staatengemeinschaft anzulegen. Dieser Maßstab muss auch bestimmend sein für die gemeinsame Sicherheitspolitik. Die Versuche zum Beispiel von Außenminister Westerwelle, der Abrüstungspolitik wieder den ihr gebührenden Rang zu verschaffen, sind deshalb so richtig und so sinnvoll. Zu den Grundelementen einer neuen, auf Kooperation angelegten Weltordnung gehört die Verhinderung und, falls notwendig,
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