Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Begründung der Weltorganisation eine Art geborene Mitglieder des Weltsicherheitsrates. Dabei muss es bleiben. Erwartet werden muss von ihnen, dass sie sich in ihrem Abstimmungsverhalten entsprechend der Europäischen Union gerieren, was ohnehin eine Konsequenz einer gemeinsamen Außenpolitik ist. Ein deutsches Begehren nach einem Ständigen Sitz würde zudem neue Probleme in die Europäische Union hineintragen. Rom, Madrid und Warschau würden sich melden. Und wie würde der Rest der Welt reagieren, wenn aus Europa weitere Einzelstaaten, beginnend mit Deutschland, Ansprüche anmelden? Ein Anspruch der Europäischen Union dagegen würde genauso selbstverständlich akzeptiert werden wie ein Anspruch von ASEAN oder dem Golf-Kooperationsrat oder anderer regionaler Organisationen.
LINDNER
Im Zusammenhang mit dem Irakkrieg sind Sie auf die damalige Sowjetunion zu sprechen gekommen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir über die Rolle eines so wichtigen Akteurs wie Russland sprechen sollten.
GENSCHER
Russland unerwähnt zu lassen, das wäre in der Tat ein schweres Versäumnis. Man muss hinsichtlich der Bedeutung der europäisch-russischen Beziehungen erkennen: Wir leben auf derselben Erdscholle und gehören zum selben Kontinent. Auch wenn der größere Teil Russlands jenseits des Urals liegt, schlägt das Herz des Riesenreiches und des großen russischen Volkes doch in Europa. Die Völker der EU und Russlands sind schicksalhaft miteinander verbunden. Die Russen sind ein europäisches Volk. Auch sie leben im gemeinsamen Haus Europa. An der Ostgrenze Polens beginnt Osteuropa und nicht Westasien.
LINDNER
Wie beurteilen Sie die Lage in Russland?
GENSCHER
Ich denke, dass der einst von Gorbatschow eingeleitete Demokratisierungsprozess der russischen Gesellschaft inzwischen unumkehrbar ist. Das gilt selbst dann und dort, wo es Rückschläge gibt. Wladimir Putin geht es offenbar darum, Zustimmung zu seiner Politik durch die Stärkung russischen Selbstbewusstseins, durch den Hinweis auf die tausendjährige russische Geschichte und auf die nationale Identität und Würde des russischen Volkes zu gewinnen. Die größte Priorität, die eine russische Führung aber sehen muss, ist die Modernisierung des Landes, seiner Institutionen und seiner Wirtschaft und zentral eine mutige Öffnung und Demokratisierung der russischen Gesellschaft. Für all das ist die EU der ideale Partner – das weiß auch Putin, und in Europa muss sich auch jeder seiner Verantwortung dafür bewusst sein.
LINDNER
Steckt hinter seiner Rhetorik nicht auch ein Stück Kompensation? Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die Bedeutung Russlands auf der Weltbühne deutlich zurückgegangen. Etwas verkürzt basiert sie heute auf Rohstoffen und Kernwaffen. Diesen Prestigeverlust spüren die Russen. Umso mehr muss man daran arbeiten, dass sich die Beziehungen nicht verschlechtern. Die russische Syrien-Politik und die innenpolitische Entwicklung mit ihren stark autoritären Zügen erschwert das aber. Die Art, wie die russische Diplomatie die jüngste Resolution des Bundestags hat abtropfen lassen, war nicht eben Ausdruck von Dialogbereitschaft.
GENSCHER
Wir sollten bei unseren völlig berechtigten Mahnungen zur Menschenrechtssituation im Blick behalten, dass eine strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland, der EU und Russland und den USA und Russland nicht ernst genug genommen werden kann. Sie ist von zentraler Bedeutung für die Stabilität der neu entstehenden multipolaren Weltordnung. Die gemeinsamen Interessen sind größer, als gemeinhin von den Vertretern alten Denkens diesseits und jenseits des Atlantiks angenommen wird. Da steht mancher noch mit einem Bein in den Schützengräben des Kalten Krieges. Es gibt genug Probleme, die wir nur gemeinsam mit Russland lösen können: Die Verhinderung neuer Atomwaffenbesitzer, die Verhinderung eines Krieges im Nahen und im Mittleren Osten. Die Überwindung des israelisch-palästinischen Konfliktes durch eine für alle Seiten akzeptable Friedenslösung. Bei der Behandlung der Iran-Frage zeigt Russland ja auch wachsende Bereitschaft, die gemeinsame Verantwortung auch gemeinsam wahrzunehmen. In Syrien zeichnet sich eine neue Einschätzung der Lage durch Moskau ab. Die Nichterwähnung der Raketenabwehrfrage in der Putin-Erklärung nach seiner Amtsübernahme heißt nicht, dass dieses Thema an Bedeutung verloren hat. Aber sie kann verstanden werden als die Absicht, eine breitere Kooperation nicht von
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