Brüder der Drachen
verharrte.
»Ja, lasst uns gehen«, sagte Grimstan, und gemeinsam mit dem Ritter schloss er sich der kleinen Prozession an. Der Tempel war ein einfaches Fachwerkgebäude, und in seinem Inneren gab es für die Andächtigen fünf lange, roh gezimmerte Bänke. Nach Westen und Osten zu waren breite Fenster in die Seitenwände eingelassen, deren hölzernen Läden nun geöffnet waren, um den Blick zu den göttlichen Lichtern des Himmels freizugeben. Im Osten hatte Eril-Firion sich in Wolken gehüllt, doch weit im Westen war immer noch der goldene Streifen sichtbar, wo die Sonne den Horizont in Flammen gesetzt hatte. An der südlichen Wand stand der Altar, auf dem eine Kerze brannte, und darüber hing der Kreis – das Zeichen Firions.
Neben dem Altar war Sad Eldon in ein Gespräch mit einem Mann und einer Frau vertieft. Der Mann war beleibt und kahlköpfig, sein faltiges Gesicht war mit grauen Bartstoppeln bedeckt. Er trug ein zerschlissenes Gewand, das einmal eine Priesterrobe gewesen sein mochte. Die Frau war etwa im gleichen Alter wie Sad Eldon, vielleicht dreißig Jahre alt, ihre schlanke Gestalt erschien jedoch jugendlich und mädchenhaft. Sie trug ein Kleid aus schmucklosem grauem Stoff, und über ihre Schultern hatte sie ein dünnes Tuch von blassgrüner Farbe geworfen. Beide blickten den Ankömmlingen entgegen, und auf ihren Gesichtern war Erstaunen und Freude zu lesen.
Grimstan und Eldilion, die den Tempel als Letzte betraten, setzten sich auf die hinterste Bank, in der Nähe des Eingangs, von wo aus sie dem Gottesdienst folgten. Allerdings war Grimstans Blick die meiste Zeit auf die beiden Gäste des Priesters gerichtet, die nun auf der vordersten Bank saßen. Der Himmel hatte sich verdunkelt, als Sad Eldon seine Predigt beendete, und Grimstan war der Erste, der aus dem Tempel hinaus ins Freie trat.
»Ich würde gerne eine Weile mit einer alten Gefährtin reden«, sagte er zu Eldilion. »Bitte geht mit Sad Eldon voraus, ich werde bald wieder bei Euch sein.«
Sie blieben am Eingang des Gebäudes stehen, wo eine kleine Lampe ihr flackerndes Licht auf den Weg warf, der von dem Hügel hinunterführte. Der Weg schimmerte feucht, denn inzwischen hatte ein leichter Regen eingesetzt. Das letzte Licht der Dämmerung konnte die dichten Wolken kaum noch durchdringen, die nun auch den westlichen Horizont erobert hatten. Ein Mann entzündete einen Holzspan an der Lampe des Tempels und brachte damit seine eigene Laterne zum Brennen. Die Männer und Frauen aus dem Dorf drängten sich dicht hinter ihn, als sie sich gemeinsam auf den Heimweg machten. Wortlos blieb Sad Eldon neben Grimstan und Eldilion an der Tür des Tempels stehen, und er blickte den Menschen hinterher, bis das flackernde Licht der Lampe hinter einer Biegung des gewundenen Pfades verschwand. Erst dann wandte der Priester sich zu Grimstan um und legte eine Hand auf die Schulter des alten Mannes.
»Du möchtest wahrscheinlich gerne einen Moment mit Ylee alleine sein«, sagte er. »Ich will zusammen mit Duram und Eldilion hinuntergehen und unsere Abendmahlzeit vorbereiten.«
Grimstan wartete, bis der Priester und seine Begleiter sich ein paar Schritte entfernt hatten, bevor er sich der Frau zuwandte. Das Licht der kleinen Lampe, die am Tor des Tempels brannte, schien auf ihre langen dunklen Haare.
»Es ist lange her, dass wir uns zuletzt gesehen haben, Ylee«, sagte er. »Es freut mich, dich wohlauf zu finden.«
»Ja, es ist lange her«, sagte die Frau mit trauriger Stimme. »Vor drei Jahren standen wir gemeinsam am Grab meiner Mutter. Und auch heute findest du mich voller Trauer, denn vor sechs Wochen starb Tamalon.«
»Das tut mir leid«, sagte Grimstan. »Er war ein guter Mann.«
»Ja, das war er, und ich vermisse ihn sehr. Jetzt lebe ich in Car-Tiatha, denn die Königin hat mich zu sich gerufen.«
»Der Königshof in Car-Tiatha könnte ein gefährlicher Ort für dich sein. Der Gedanke, dass du dort lebst, erfüllt mich mit Sorge.«
»Und doch hätte ich schon früher dorthin gehen sollen. Wir haben vielleicht schon viele Gelegenheiten verpasst, weil wir zu lange gezögert haben. Viel hätte ich am Königshof erfahren können, das uns weitergeholfen hätte.«
»Das ist wahr«, sagte Grimstan. »Oder du hättest sterben können, wenn die Alten auf deine Spur gekommen wären. Aber du hast recht, wir hätten früher handeln sollen. Vor allem ich habe zu lange gezögert.«
»Dich trifft nicht mehr Schuld als jeden von uns. Dennoch habe ich mich
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