Brüder Des Zorns
Hörweite gegen die Mauer. Er wirkte sehr friedfertig, aber Gasam wählte die Palastwachen eigenhändig aus. Bei der kleinsten feindseligen Bewegung würde der Junge den ersten Besucher mit dem Speer durchbohren, den Wurfstab aus dem Gürtel ziehen und dem anderen vor die Stirn schleudern. Der mit einer Kugel beschwerte Stab würde durch die Luft sausen, noch ehe der Speer den Leib des ersten Mannes durchbohrte.
Larissa spielte die großmütige Gastgeberin, schenkte Wein ein und reichte den Besuchern die gefüllten Becher. Genüsslich nippte sie an ihrem Becher und beobachtete die beiden. Sie wirkten angespannt und aufgeregt. Der Form halber tranken und aßen sie ein wenig, aber es war offensichtlich, dass sie vor Erregung kaum etwas hinunterbrachten.
»Habt ihr euch noch nicht bei Meister Hildas gemeldet?« fragte sie. Erstaunt rissen die beiden die Augen auf. Sie hatten anscheinend jegliche Etikette umgangen, um sofort zu ihr zu eilen.
»Meine Königin«, erklärte Haffle, »die Neuigkeiten, die wir bringen, sind so wichtig, dass wir beschlossen, sie zuerst dir und dem König mitzuteilen. Als wir die Grenze überschritten, hörten wir, dass sich der König auf einem Feldzug befindet. Da wir keinesfalls durch Kriegsgebiete reisen wollten, sind wir eilends hierher gekommen.«
»Eine kluge Entscheidung. Wenn ihr mir die Nachricht bringt, auf die ich warte, wird niemand eure Tapferkeit in Frage stellen. Ich sorge dafür, dass euch Hildas keine Schwierigkeiten bereitet. Er ist sowieso anderweitig beschäftigt. Jetzt sprecht!«
»Meine Königin!« sagte der Blauhaarige. »Wir haben die Stahlmine König Haels gefunden.«
Larissa seufzte vor Glück. »Rede weiter«, flüsterte sie mit kehliger Stimme.
In der einen Hand hielt die Königin den zierlichen Speer, das Zeichen ihrer Macht, in der anderen den kostbarsten Gegenstand der Welt: eine Landkarte, die zusammengerollt in einem wasserdichten Behälter steckte.
Seit Stunden saß sie unbeweglich in dieser Haltung und runzelte die Stirn. Ihre Sklavinnen schlichen auf Zehenspitzen umher und fürchteten sich wegen des seltsamen Benehmens ihrer Herrin. Ein bisher unbekanntes Gefühl hatte die Herrscherin erfasst: Unentschlossenheit. Normalerweise handelte sie so schnell entschlossen und natürlich wie ein Tier. Diese Entscheidung überforderte sie. Gasams Befehle waren eindeutig: Sie sollte hier bleiben und an seiner Stelle regieren. Dennoch musste sie ihm die Neuigkeit berichten und ihm die Landkarte bringen, wo auch immer er sich aufhielt. Es gab niemanden, keine Menschenseele, der sie diese Mission übertragen konnte.
Den größten Teil der Nacht hockte sie auf dem Boden, ohne sich zu rühren. Die Sklaven brachten Kerzen und Lampen. Man tischte Speisen auf, aber sie rührte nichts an.
Als der Morgen dämmerte, erhob sie sich. Eigentlich war die Entscheidung doch nicht so schwierig, dachte sie. Das Reich würde auch ohne sie verwaltet werden. Einen Teil der Aufsicht übernahmen die von ihr persönlich ausgewählten Männer. Für Gehorsam sorgten die königlichen Truppen, die Gasam zurückgelassen hatte.
Bisher hatte Larissa sie nicht gebraucht. Der Schrecken, den Gasams Name bewirkte, reichte aus, um jeden Gedanken an Aufruhr zu verscheuchen.
»Bereitet ein Bad vor und holt General Pendu!« befahl sie. Die Sklaven beeilten sich, ihre Wünsche zu erfüllen. Eine Stunde später betrat ein großer, grimmig aussehender Shasinn ihre Gemächer. Jahre des Kampfes hatten tiefe Furchen zu beiden Seiten des Mundes und um die Augen hinterlassen. Das dunkelblonde Haar war stark angegraut, aber der Körper sah aus wie aus Metall gegossen, und sein federnder Schritt stand dem eines jungen Mannes in nichts nach. Er und Gasam hatten als Knaben zur gleichen Kriegerbruderschaft gehört.
»Ja, meine Königin?« fragte er, ohne Zeit mit Höflichkeitsfloskeln zu verschwenden.
»Pendu, es ist etwas Außergewöhnliches geschehen. Ich muss sofort zu meinem Gemahl reisen.«
»Was? Aber der König hat befohlen …«
»Ich weiß sehr gut, was der König befahl!« fauchte sie. »Es ist etwas Unvorhergesehenes passiert. Ich muss ihm die Nachricht so rasch wie möglich überbringen. Meine Leibwache nehme ich mit, da die Männer reiten können. Die übrigen Shasinn lasse ich hier.«
»Meine Königin!« widersprach Pendu. »Der König ließ mich zurück, um Euch zu beschützen. Wenn es wichtig ist, dann nehmt mich mit. Nie zuvor ist der König ohne mich in die Schlacht
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