Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
uns nicht. Allerdings ist sie natürlich auch keine Französin. Ihre Heimat ist fern.«
»Meine Heimat ist auch fern«, sagte Angélique mitleidlos. »Aber deshalb stürze ich nicht die ganze Nation in Schulden.«
Schulden, Haushaltsdefizit – diese Worte hingen im Raum, während sich die Cafégäste darin versuchten, eine Zahl zu benennen. Nur wenige Leute, so die im Café vorherrschende Meinung, waren imstande, sich Geldbeträge in solchen Dimensionen vorzustellen; es sei dies eine besondere Fähigkeit, die M. Calonne, der derzeitige Generalkontrolleur der Finanzen, nicht besitze. Mit seinen Spitzenmanschetten und seinem Lavendelwasser, seinem Spazierstock mit Goldknauf und seiner nachweislichen Leidenschaft für Périgord-Trüffeln war M.Calonne der vollendete Höfling. Wie M.Necker nahm er Kredite auf; im Café war man allerdings der Ansicht, dass das bei M.Necker eine wohlüberlegte Politik gewesen sei, während M.Calonne nur aus mangelnder Vorstellungskraft und zur Wahrung des Scheins so agiere.
Im August schlug der Generalkontrolleur der Finanzen dem König ein Reformprogramm vor. Es gab einen gewichtigen, dringenden Grund, rasch zu handeln: Man hatte bereits die Hälfte der Staatseinnahmen des kommenden Jahres ausgegeben. Frankreich sei ein reiches Land, erklärte M. Calonne dem Monarchen, es könne ein Vielfaches der derzeitigen Einnahmen erwirtschaften. Was eindeutig Ruhm und Ehre der Monarchie mehren würde. Louis schien sich da nicht so sicher. Ruhm und Ehre seien ja schön und gut, sehr angenehm, aber er wolle nur tun, was richtig sei, und um diese vermehrten Staatseinnahmen zu erzielen, würden grundlegende Veränderungen vonnöten sein, oder nicht?
Tatsächlich, erklärte sein Minister, müsse von jetzt an jeder – Adlige, Klerus, Dritter Stand – eine Grundsteuer entrichten. Das unheilvolle System der Steuerprivilegien müsse ein Ende haben. Die Binnenzölle müssten zugunsten des Freihandels abgeschafft werden. Und den Liberalen müssten gewisse Zugeständnisse gemacht werden – die Corvée gehöre endgültig abgeschafft. Der König runzelte die Stirn. Irgendwie kam ihm das alles bekannt vor. Er fühle sich an M. Necker erinnert, sagte er. Hätte er etwas nachgedacht, hätte er sich an M. Turgot erinnert gefühlt, aber er verlor langsam den Überblick.
Die Sache sei die, erklärte er dem Minister: Selbst wenn er persönlich derartige Maßnahmen begrüße, würden die Parlamente niemals zustimmen.
Das, so M. Calonne, sei ein schlagendes Argument. Seine Majestät hätten mit der ihr eigenen unfehlbaren Treffsicherheit das Problem auf den Punkt gebracht.
Doch wenn Seine Majestät die Maßnahmen für notwendig hielten, sei es denn dann richtig, sich von den Parlamenten blockieren zu lassen? Warum nicht die Initiative ergreifen?
Hm, machte der König. Er rutschte auf seinem Sessel herum und schaute aus dem Fenster, sah nach dem Wetter.
Er rate seiner Majestät, so M. Calonne, eine Versammlung von Notabeln einzuberufen. Eine was?, fragte der König nach. Calonne fuhr fort. Die Notabeln würden mit einem Schlag das wahre Ausmaß der finanziellen Not ihres Landes erkennen und ihren Einfluss geltend machen, um jegliche vom König für notwendig erachteten Maßnahmen zu unterstützen. Es wäre ein kühner Streich, versicherte er dem König, ein Organ zu schaffen, das den Parlamenten dem Wesen nach übergeordnet sei, ein Organ, dem sie Folge leisten müssten. Es sei die Sorte Maßnahme, die Henri IV ergriffen hätte.
Der König sann nach. Henri IV war der klügste und beliebteste aller französischen Monarchen gewesen; derjenige, dem er, Louis, am ehesten nacheiferte.
Der König bettete den Kopf in seine Hände. Es klang nach einer guten Idee, so wie Calonne es ihm darlegte, doch seine Minister waren alle äußerst redegewandt, und die Dinge waren nie so einfach, wie sie sie darstellten. Und dann waren da noch die Königin und ihr Kreis … Er blickte auf. Die Königin sei der Ansicht, sagte er, dass er die Parlamente, wenn sie sich ihm das nächste Mal in den Weg stellten, einfach auflösen sollte. Die Parlamente von Paris, die Provinzparlamente – zack, zack, zack. Alle weg.
M. Calonne erbebte, als er das hörte. Was konnte aus dieser Denkweise anderes folgen als ein Jahrzehnt der erbitterten Kämpfe, der Debatten, der Fehden und Aufstände? Wir müssen aus diesem Kreislauf ausbrechen, Euer Majestät, sagte er. Glauben Sie mir – bitte, Sie müssen mir glauben –, so ernst war die
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