Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Camille. »Die Idee, man könne Gefühle schonen, ist ihm fremd. Ja, die Idee von Gefühlen schlechthin ist ihm fremd.«
Es war ein kurzer Besuch gewesen, ein, zwei Tage nur. Jean-Nicolas war gekommen, weil er den Vieux Cordelier in die Finger bekommen hatte. Er wollte seinem Sohn sagen, wie sehr er ihn dafür bewunderte, wie sehr er das Gefühl hatte, dass sein Sohn schließlich und endlich das Richtige tat, vielleicht auch, wie sehr er ihn vermisste und sich über einen gelegentlichen Besuch von ihm freuen würde.
Doch als er versuchte, das in Worte zu fassen, übermannte ihn eine furchtbare Verlegenheit, so lähmend wie das heftige Erröten eines dreizehnjährigen Mädchens in Gesellschaft. Er bekam plötzlich keinen Ton mehr heraus und stand sprachlos vor seinem Sohn, der es ohnehin vorzog, nicht zu sprechen.
Es war, dachte Lucile, eine der weniger erfreulichen halben Stunden in ihrem Leben gewesen. Fabre war auch dagewesen und hatte wie üblich sein Los beklagt; doch als er Desmoulins Senior in derartiger Not erlebte, waren ihm tatsächlich Tränen in die Augen gestiegen. Sie hatte gesehen, wie er sie wegtupfte; auch Camille hatte es gesehen. Eigentlich hätten sie weinen sollen, hatte Fabre hinterher gesagt – hatten sie nicht allen Grund dazu? Als Jean-Nicolas den Versuch, etwas zu sagen, schließlich aufgab, umarmten sich Vater und Sohn sehr zurückhaltend, fast frostig. Der Mann hat irgendeinen Defekt, sagte Fabre später; ich glaube, mit seinem Herzen stimmt etwas nicht.
Natürlich hatte der Besuch auch noch einen anderen Aspekt. Doch den benannte nicht einmal Fabre. Es war die Frage: Wirst du überleben? Auch heute Abend benannten sie ihn nicht. »Wenn ich da an Georges-Jacques und seine Mutter denke – es ist schon verrückt. Sie ist eine lästige alte Hexe, aber irgendwie kommen die beiden immer miteinander zurecht, sie sind immer in Verbindung. Oder auch du und deine Mutter.«
»Praktisch ein und dieselbe Person«, sagte Lucile bissig.
»Ja, und dann schau, wie es bei mir ist – kaum zu glauben, dass ich überhaupt mit meiner Mutter verwandt bin, vielleicht hat mich Jean-Nicolas ja unter irgendeinem Busch gefunden. Ich habe mein Leben lang versucht, es ihm recht zu machen, es ist mir nie gelungen, und trotzdem habe ich nie aufgegeben. Schau, Vater, ich bin zehn Jahre alt und kann Aristophanes lesen, wie meine Schwestern Kinderreime lesen. Ja, aber warum hat Gott uns ein Kind mit einem Sprachfehler geschenkt? Schau, Vater, ich habe jede Prüfung bestanden, die es auf dieser Welt gibt – freust du dich? Ja, aber wann verdienst du endlich Geld? Schau, Vater, die Revolution, von der du seit zwanzig Jahren redest – ich habe sie in Gang gesetzt. Ah ja, schön, aber ich hatte etwas anderes für dich im Sinn, und was werden die Nachbarn denken?« Camille schüttelte den Kopf. »Wenn ich überlege, wie viele Jahre meines Lebens ich, alles zusammengerechnet, damit verbracht habe, diesem Mann Briefe zu schreiben. In der Zeit hätte ich Aramäisch lernen können. Oder irgendetwas Nützliches tun. Ich hätte mit Marat zusammen sein Roulettesystem weiterentwickeln können.«
»Hatte er eins?«
»Das hat er jedenfalls gesagt. Bloß hat er immer so ein Bild des Jammers geboten, dass man ihn gar nicht in die Spielkasinos reingelassen hat.«
Sie saßen eine Weile schweigend da. Zu Camilles Mutter gab es nichts mehr zu sagen. Er hatte sie nicht gekannt, sie ihn nicht, und genau deshalb war die Kunde von ihrem Tod so bedrückend – da war dieses Gefühl, auf eine zweite Chance gesetzt zu haben, die nun ungenutzt verstrichen war. »Spieler«, sagte sie. »Ich muss immer wieder an Hérault denken. Er sitzt jetzt seit vierzehn Tagen im Gefängnis. Aber er wusste, dass man ihn verhaften würde. Warum ist er nicht geflohen?«
»Er ist zu stolz.«
»Und Fabre. Stimmt es, dass auch Lacroix verhaftet werden soll?«
»Angeblich. Und Philippeaux auch. Wer sich dem Ausschuss widersetzt, hat sein Leben verwirkt.«
»Aber du hast dich dem Ausschuss auch widersetzt, Camille. Seit fünf Monaten tust du nichts anderes, als den Ausschuss zu attackieren.«
»Ja, aber ich habe Max. An mich kommen sie nicht heran. Sie würden es gern, aber ohne ihn geht es nicht.«
Sie kniete sich vor den Kamin. Erschauerte. »Morgen muss ich neues Holz besorgen lassen.«
COUR DU COMMERCE : »Der Abgeordnete Panis ist hier.« Louise hatte sofort die Angst gespürt, die von dem Mann an der Tür ausging. Es war Viertel vor eins, der
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