Brunetti 02 - Endstation Venedig
Er klingelte, wartete einen Augenblick, klingelte wieder, wartete und klingelte ein drittes Mal.
Ganze zwei Minuten nach seinem letzten Klingeln hörte er eine Stimme von drinnen fragen: »Si, chi è ? «
»Ich bin's, Signora Concetta, Brunetti.«
Als sie die Tür aufmachte, hatte er wie jedesmal den Eindruck, statt einer Frau ein Faß vor sich zu sehen. Signora Concetta war vor vierzig Jahren einmal die herausragende Schönheit von Caltanisetta gewesen. Der Überlieferung nach waren junge Männer stundenlang in der Nähe ihres Hauses herumspaziert, nur um vielleicht einen Blick auf die schöne Concetta zu erhaschen. Sie hätte jeden haben können, vom Sohn des Bürgermeisters bis zum jüngeren Bruder des Arztes, sie aber wählte den dritten Sohn der Familie, die einst die ganze Provinz mit eiserner Faust regiert hatte. Sie war eine angeheiratete Ruffolo, und als Annunziatos Schulden sie aus Sizilien vertrieben, war sie zu einer Fremden in dieser kalten und ungastlichen Stadt geworden. Bald darauf war sie verwitwet und lebte nun von einer Rente, die aus dem Staatssäckel und der Mildtätigkeit der Familie ihres Mannes stammte, und noch bevor Giuseppe die Schule beenden konnte, war sie zur Mutter eines Kriminellen geworden.
Seit dem Tag, an dem ihr Mann gestorben war, ging sie ganz in Schwarz: Kleid, Schuhe, Strümpfe, sogar das Tuch, das sie trug, sowie sie das Haus verließ. Auch wenn sie mit den Jahren immer runder wurde und ihr Gesicht vor Kummer über den Lebenswandel ihres Sohnes immer faltiger, das Schwarz blieb, und sie würde es bis ins Grab tragen, vielleicht noch darüber hinaus.
»Buon giorno, Signora Concetta«, begrüßte Brunetti sie lächelnd und reichte ihr die Hand.
Er beobachtete ihr Gesicht und las dessen Ausdruck wie einen Comic mit schnell wechselnden Bildern. Zuerst kam das Erkennen und der instinktive Abscheu vor dem, was er repräsentierte, dann die Erinnerung daran, wie gut er zu ihrem Sohn gewesen war, ihrem Stern, ihrer Sonne, und dann sah er, wie sich ihre Züge glätteten und ihr Mund sich zu einem Lächeln aufrichtiger Freude verzog. »Ah, Dottore, Sie kommen mich mal wieder besuchen. Wie nett. Aber Sie hatten anrufen sollen, dann hätte ich gründlich saubergemacht und Ihnen etwas Leckeres gebacken.« Er hatte »anrufen«, »saubergemacht« und »gebacken« verstanden und sich das Übrige daraus zusammengereimt.
»Signora, eine Tasse von Ihrem hervorragenden Kaffee wäre schon mehr, als ich zu hoffen wagte.«
»Kommen Sie, kommen Sie herein«, sagte sie, schob ihre Hand unter seinen Arm und zog ihn mit. Dann trat sie rückwärts durch die offene Tür ihrer Wohnung, wobei sie seinen Arm festhielt, als hatte sie Angst, daß er ihr weglaufen könnte.
Als sie drinnen standen, drückte sie mit der einen Hand die Tür zu und zog ihn mit der anderen weiter. Die Wohnung war so klein, daß wahrhaftig niemand darin verlorengehen konnte, und doch behielt sie die Hand an seinem Arm und geleitete ihn so in das kleine Wohnzimmer. »Nehmen Sie diesen Sessel hier, Dottore«, sagte sie und führte ihn zu einem prallen Sessel, der mit glänzendem, orangefarbenem Stoff bezogen war. Jetzt ließ sie ihn endlich los. Als er zögerte, drängte sie: »Setzen Sie sich. Ich mache uns einen Kaffee.«
Er tat wie ihm befohlen und versank in dem Sessel, bis seine Knie auf gleicher Höhe mit seinem Kinn waren. Sie knipste die Lampe neben dem Sessel an; die Ruffolos lebten in dem ewigen Zwielicht derer, die zu ebener Erde wohnen, aber selbst eine Lampe um die Mittagszeit konnte nichts gegen die Muffigkeit ausrichten.
»Bleiben Sie schön sitzen«, kommandierte sie und ging zur anderen Seite des Zimmers, wo sie einen geblümten Vorhang beiseite schob, hinter dem sich eine Spüle und ein Herd verbargen. Von seinem Platz aus sah Brunetti, daß die Wasserhähne glänzten und der Herd in seinem Weiß fast strahlte. Sie öffnete ein Schränkchen und holte das zylindrische Espressokännchen heraus, das er immer mit dem Süden in Verbindung brachte, ohne zu wissen warum. Sie schraubte es auseinander, spülte es sorgfältig aus, spülte nach, und füllte sie mit Wasser. Dann löffelte sie mit geübten, rhythmischen Bewegungen Kaffeemehl aus einem Vorratsglas hinein, entzündete das Gas und stellte die Kanne auf die Flamme.
In dem Zimmer hatte sich seit seinem letzten Besuch nichts verändert. Vor der Gipsstatue der Madonna standen gelbe Plastikblumen; Spitzendeckchen in ovaler, rechteckiger und runder Form lagen
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