Brunetti 03 - Venezianische Scharade
hinhalten. Der Zug setzte sich genau in dem Augenblick in Bewegung, als Chiara den Kopf drehte, um sich den Mund abzuwischen, und ihn dabei auf dem Bahnsteig stehen sah. Ihr Gesicht, am Kinn noch glänzend feucht vom Pfirsichsaft, leuchtete in reinster Freude auf, und sie sprang ans Fenster. »Ciao, papà, ciao, ciao«, rief sie durch den Zuglärm. Sie stand auf dem Sitz, beugte sich hinaus und schwenkte wie wild Paolas Taschentuch. Brunetti stand da und winkte, bis die winzige weiße Liebesflagge in der Ferne entschwand.
Als er in der Questura von Mestre zu Gallos Büro kam, traf er den Sergente schon an der Tür. »Es kommt jemand, um sich die Leiche anzusehen«, sagte Gallo ohne Einleitung.
»Wer? Wieso?«
»Ihre Leute haben heute früh einen Anruf bekommen. Von einer«, er warf einen Blick auf einen Zettel in seiner Hand, »von einer Signora Mascari. Ihr Mann ist Direktor der venezianischen Filiale der Banca di Verona. Er ist seit Samstag verschwunden.«
»Das war vor einer Woche«, sagte Brunetti. »Warum hat es so lange gedauert, bis sie sein Verschwinden bemerkt hat?«
»Er wollte eine Geschäftsreise machen. Nach Messina. Er ist am Samstagnachmittag abgefahren, und seither hat sie nichts mehr von ihm gehört.«
»Eine Woche? Sie hat eine Woche vergehen lassen, bevor sie uns angerufen hat?«
»Ich habe nicht selbst mit ihr gesprochen«, erklärte Gallo, fast so als hätte Brunetti ihn der Tatenlosigkeit bezichtigt.
»Wer war am Apparat?«
»Ich weiß es nicht. Ich hatte nur einen Zettel auf dem Schreibtisch, daß sie heute vormittag zum Umberto Primo fährt und sich die Leiche ansieht. Gegen halb zehn wollte sie dort sein.«
Die Männer tauschten einen Blick. Gallo schob seinen Ärmel zurück und sah auf die Uhr.
»Ja«, sagte Brunetti, »gehen wir.«
Darauf folgte ein Durcheinander, das in seinem Irrwitz fast filmreif war. Ihr Wagen geriet ins morgendliche Verkehrschaos; der Fahrer entschied sich für einen Umweg, der zur Rückseite des Krankenhauses führte, worauf sie nur in einen noch längeren Stau gerieten und ankamen, als Signora Mascari nicht nur die Leiche bereits als ihren Mann Leonardo identifiziert hatte, sondern auch mit demselben Taxi, das sie von Venedig hergebracht hatte, zur Questura von Mestre weitergefahren war, wo die Polizei, wie man ihr gesagt hatte, ihre Fragen beantworten würde.
Das alles führte dazu, daß Signora Mascari, als Brunetti und Gallo schließlich zur Questura zurückkamen, schon über eine Viertelstunde auf sie wartete. Aufrecht und ganz allein saß sie auf einer Holzbank im Flur vor Gallos Büro. Sie war eine Frau, aus deren Kleidung und Auftreten nicht sprach, daß ihre Jugend dahin war, sondern daß es nie eine gegeben hatte. Ihr Kostüm aus mitternachtsblauer Wildseide war klassisch geschnitten, der Rock etwas länger, als die Mode verlangte. Die dunkle Farbe stand in scharfem Kontrast zu ihrer blassen Haut.
Sie blickte hoch, als die beiden Männer auf sie zukamen, und Brunetti stellte fest, daß ihr Haar den Rotton hatte, der bei Frauen in Paolas Alter so beliebt war. Sie war kaum geschminkt, so daß er um ihre Augenwinkel und den Mund die haarfeinen Linien erkennen konnte, die entweder durch Alter oder durch Kummer verursacht worden waren, welches von beidem, konnte Brunetti nicht sagen. Signora Mascari erhob sich und trat einen Schritt auf die beiden Männer zu. Brunetti blieb vor ihr stehen und streckte die Hand aus. »Signora Mascari, ich bin Commissario Brunetti von der venezianischen Polizei.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie rasch und nur schwach. Ihm fiel auf, daß ihre Augen stark glänzten, ob von ungeweinten Tränen oder durch die Spiegelung ihrer Brillengläser, wußte er nicht.
»Mein herzliches Beileid, Signora Mascari«, sagte er. »Ich weiß, wie schmerzlich und schockierend all dies für Sie sein muß.« Sie gab immer noch nicht zu erkennen, daß sie seine Worte aufgenommen hatte. »Können wir jemanden anrufen, den Sie hier bei sich haben möchten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mir, was passiert ist.«
»Wir gehen vielleicht am besten in Sergente Gallos Büro«, schlug Brunetti vor und griff nach der Türklinke. Er ließ Signora Mascari den Vortritt. Dann sah er über seine Schulter hinweg zu Gallo, der fragend die Brauen hochzog; Brunetti nickte, und der Sergente kam mit ihnen ins Büro. Brunetti stellte einen Stuhl für Signora Mascari bereit und hielt ihn, bis sie saß und zu ihm aufsah.
»Können wir Ihnen etwas
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