Brunetti 03 - Venezianische Scharade
heißer. Auf seinem Schreibtisch lagen keine neuen Zeitungen, kein Bericht von Signorina Elettra.
Er zog die unterste Schublade auf und holte das Telefonbuch heraus. Er suchte unter L nach der Lega della Moralità, fand aber nichts, was ihn allerdings nicht weiter überraschte. Unter s fand er »Santomauro, Giancarlo, avv.« und eine Adresse in San Marco. Der verstorbene Leonardo Mascari wohnte, wie er anschließend feststellte, in Castello. Das überraschte ihn nun doch; Castello war das am wenigsten renommierte sestiere der Stadt, ein Bezirk, wo vorwiegend solide Arbeiterfamilien wohnten, wo Kinder noch unbeleckt von der italienischen Sprache aufwachsen und nur Dialekt sprechen konnten, bis sie in die Grundschule kamen. Vielleicht hatten die Mascaris ja dort ihren Familiensitz. Oder er war günstig an eine Wohnung gekommen. In Venedig waren Wohnungen schwer zu finden, und wenn man eine fand, waren die Preise derart horrend, egal ob man kaufen oder mieten wollte, daß selbst Castello an Attraktivität gewann. Sofern man genug Geld für die Restaurierung ausgab, polierte diese möglicherweise das Image auf, wenn schon nicht das des ganzen quartiere, so doch wenigstens das der eigenen Adresse.
Er schlug in den gelben Seiten unter Banken nach und stellte fest, daß die Banca di Verona am Campo San Bartolomeo war, dem kleinen Campo am Fuß der Rialtobrücke, wo viele Banken ihre Büros hatten. Komisch, daß er sie nie bemerkt hatte. Mehr aus Neugier wählte er die Nummer. Der Hörer wurde beim dritten Klingeln abgenommen, und eine Männerstimme sagte: »Si?«, als ob der Anruf erwartet würde.
»Ist dort die Banca di Verona?« fragte Brunetti. Es folgte eine kurze Pause, dann antwortete der Mann: »Tut mir leid, Sie haben sich verwählt.«
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte Brunetti. Der andere legte ohne ein weiteres Wort auf. Die Launen der SIP, der nationalen Telefongesellschaft, waren so skurril, daß sich niemand darüber wunderte, wenn er einen falschen Anschluß am Apparat hatte, aber Brunetti war sicher, daß er richtig gewählt hatte. Er probierte es noch einmal, doch diesmal klingelte es zwölfmal, ohne daß jemand abnahm, und schließlich legte er auf. Er schaute erneut ins Telefonbuch und notierte sich die Anschrift. Dann suchte er sich die Hausnummer von Morellis Apotheke heraus. Sie befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft. Er warf das Telefonbuch wieder in die Schublade und schob sie mit dem Fuß zu. Anschließend schloß er die Fenster und verließ die Questura.
Zehn Minuten später trat er aus den Bögen des sottoportico der Calle della Bissa auf den Campo San Bartolomeo hinaus. Sein Blick fiel auf die Bronzestatue Goldonis, der zwar nicht sein liebster Bühnenautor war, aber sicher derjenige, der ihn am meisten zum Lachen bringen konnte, besonders dann, wenn die Stücke in ihrem ursprünglichen venezianischen Dialekt gespielt wurden, wie es üblich war hier in der Stadt, die der Dichter in seinen Stücken porträtierte und die ihn genug liebte, um ihm ein Denkmal zu errichten. Goldoni war mitten in einem schwungvollen Schritt eingefangen, und darum war dieser Campo für seine Statue der richtige Platz, denn hier hatten es alle eilig, waren immer auf dem Weg irgendwohin: über die Rialtobrücke entweder zum Stadtteil San Marco oder Cannaregio. Wenn man im Herzen der Stadt wohnte, sorgte schon ihre Geographie dafür, daß man mindestens einmal am Tag den Campo San Bartolomeo überquerte.
Als Brunetti ankam, herrschte dichtester Fußgängerverkehr; viele hasteten noch rasch zum Markt, bevor geschlossen wurde, oder sie eilten, nachdem die Arbeitswoche endlich hinter ihnen lag, nach Hause. Er schlenderte an der Ostseite des Campo entlang und achtete dabei auf die "Hausnummern über den Türen. Wie erwartet fand er die gesuchte Nummer über einem Eingang zwei Türen neben der Apotheke. Er blieb vor der Klingeltafel neben der Tür stehen und sah sich die Namen an. Die Banca di Verona war dabei, außerdem standen neben den Klingelknöpfen noch drei andere Namen, die wahrscheinlich zu privaten Wohnungen gehörten.
Brunetti drückte auf die erste Klingel über der Bank. Niemand machte ihm auf. Dasselbe bei der zweiten. Er wollte gerade auf den dritten Knopf drücken, als er hinter sich eine Frauenstimme in reinstem Veneziano fragen hörte: »Kann ich Ihnen helfen? Zu wem wollen Sie denn?«
Er drehte sich um und stand einer kleinen, alten Frau mit einem vollbeladenen Einkaufswagen
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