Brunetti 03 - Venezianische Scharade
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Ein Glas Wasser wäre gut, Signora.«
Wie nicht anders erwartet, holte sie ein silbernes Tablett vom Schrank, legte ein kleines Spitzendeckchen in die Mitte und stellte ein Muranoweinglas darauf. Dann nahm sie aus dem Kühlschrank eine Flasche Mineralwasser und schenkte das Glas voll.
»Grazie infinite«, sagte er, bevor er trank. Er stellte das Glas vorsichtig in die Mitte des Spitzendeckchens und lehnte freundlich ab, als sie fragte, ob er noch mehr wolle. »Soll ich Ihnen helfen, die Sachen auszupacken, Signora?«
»Nein, ich weiß, wo alles ist und wo alles hingehört. Sie waren sehr freundlich, junger Mann. Wie heißen Sie denn?«
»Brunetti, Guido.«
»Und Sie verkaufen Versicherungen?«
»Ja, Signora.«
»Na, dann vielen Dank«, sagte sie, stellte sein Glas in den Ausguß und griff in ihr Einkaufswägelchen.
Brunetti besann sich auf seinen wirklichen Beruf und fragte: »Signora, nehmen Sie immer so einfach Leute mit in die Wohnung? Ohne zu wissen, wer sie sind?«
»Nein, ich bin ja nicht dumm. Ich lasse durchaus nicht jeden herein«, entgegnete sie. »Ich frage immer, ob sie Kinder haben. Und natürlich müssen es Venezianer sein.«
Natürlich. Wenn er es recht bedachte, war ihr System wahrscheinlich besser als Lügendetektoren oder Sicherheitskontrollen. »Danke für das Wasser, Signora. Ich finde allein hinaus.«
»Vielen Dank«, sagte sie über ihre Einkäufe gebeugt, wahrscheinlich auf der Suche nach den Feigen.
Er ging die ersten beiden Stockwerke hinunter und blieb auf dem Treppenabsatz oberhalb der Tür zur Banca di Verona stehen. Man hörte nichts, obwohl vom Campo hin und wieder Wortfetzen oder ein Ruf heraufdrang. Im schwachen Licht, das durch die kleinen Treppenhausfenster hereinfiel, sah er auf die Uhr. Kurz nach eins. Er blieb zehn Minuten stehen und hörte, bis auf zusammenhanglose Geräusche von draußen, immer noch nichts.
Langsam stieg er die Stufen hinunter, bis er vor der Tür zur Bank stand. Nicht ohne sich ziemlich lächerlich vorzukommen, legte Brunetti den Kopf schief und spähte durch das Schlüsselloch der metallenen porta blindata. Drinnen sah er einen schwachen Schein, als ob jemand vergessen hätte, das Licht auszumachen, nachdem er am Freitagnachmittag die Läden zugeklappt hatte. Oder als ob an diesem Samstagnachmittag jemand da drin arbeitete.
Er ging wieder die Treppe hinauf und lehnte sich gegen die Wand. Nach weiteren zehn Minuten holte er sein Taschentuch heraus, breitete es auf der zweiten Stufe aus, zog die Hosenbeine hoch und setzte sich. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn auf seine Fäuste. Nach einer, wie ihm schien, langen Zeit stand er auf, schob das Taschentuch näher an die Wand und setzte sich wieder, wobei er sich nun gegen die Wand lehnte. Kein Luftzug war zu spüren, er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und die Hitze drosch förmlich auf ihn ein. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah, daß es schon nach zwei war. Bis drei, und keine Minute länger, entschied er.
Um zwanzig vor vier, immer noch an seinem Platz, jetzt aber fest entschlossen, um vier zu gehen, hörte er von unten ein metallisches Geräusch. Er stand auf, nahm sein Taschentuch an sich und zog sich nach oben zurück. Unter ihm ging eine Tür auf, aber er blieb, wo er war. Die Tür schlug zu, ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht, und auf der Treppe waren Schritte zu hören. Brunetti reckte den Hals und sah unter sich eine Gestalt verschwinden. Bei der schlechten Beleuchtung war nur ein großer Mann in dunklem Anzug auszumachen, der ein Aktenköfferchen trug. Kurzgeschnittenes, dunkles Haar und ein gestärkter, weißer Kragen, der am Nacken gerade noch zu erkennen war. Der Mann drehte sich, um die nächste Treppe hinunterzugehen, aber im Halbdunkel des Treppenhauses war wirklich nicht viel zu erkennen. Brunetti schlich sich leise hinter ihm nach unten. An der Tür zur Bank sah er noch einmal durchs Schlüsselloch, aber drinnen war es jetzt dunkel.
Von unten hörte er die Haustür auf- und wieder zugehen und rannte bei dem Geräusch die restlichen Stufen hinunter. An der Tür hielt er kurz inne, öffnete sie dann rasch und trat hinaus auf den Campo. Einen Moment wurde er von der grellen Sonne geblendet und legte die Hand über die Augen. Als er sie wegnahm, ließ er seinen Blick über den Campo schweifen, sah aber nur pastellfarbene Shorts und weiße Hemden. Er ging nach rechts und schaute die Calle della
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