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Brunetti 04 - Vendetta

Brunetti 04 - Vendetta

Titel: Brunetti 04 - Vendetta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Juristen. Folglich konnte er auch nicht glauben, daß ein Jurist, dazu noch ein berühmter und erfolgreicher, keine Feinde haben sollte. Darüber konnte er ja morgen mit Lotto reden und sehen, ob dieser etwas entgegenkommender war als seine Schwester.

10
    Während Brunettis Besuch bei den Trevisans hatte sich der Himmel bewölkt, und die schimmernde Wärme des Tages war verflogen. Der Commissario sah auf seine Armbanduhr; es war noch nicht sechs, er konnte also, wenn er wollte, in die Questura zurückgehen. Statt dessen wandte er sich in Richtung Ponte dell'Accademia, ging über die Brücke und machte sich auf den Weg nach Hause. Unterwegs betrat er eine Bar und bestellte sich ein Glas Weißwein. Er nahm eine der kleinen Brezeln, die auf dem Tresen standen, biß einmal hinein und warf den Rest in einen Aschenbecher. Der Wein war genauso mies wie die Brezel, also ließ er auch ihn stehen und setzte seinen Heimweg fort. Er versuchte, sich den Ausdruck in Francesca Trevisans Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, als sie so plötzlich in der Tür erschienen war, aber er konnte sich nur noch an ihre weitaufgerissenen Augen erinnern, als sie ihn da stehen sah. Die Augen waren trocken gewesen, und es hatte nichts in ihnen gestanden als die Überraschung; sie glich ihrer Mutter nicht nur im Aussehen, auch in der Abwesenheit von Trauer. Hatte sie jemand anderen erwartet?
    Wie würde Chiara reagieren, wenn er umgebracht würde? Und Paola? Wäre sie so ohne weiteres in der Lage, irgendeinem Polizisten Fragen über ihr Privatleben zu beantworten? Ganz sicher könnte Paola, anders als Signora Trevisan, kaum sagen, sie wisse nichts über das berufliche Leben ihres Mannes, ihres verstorbenen Mannes. Diese vorgebliche Ahnungslosigkeit hatte sich in Brunettis Gedanken festgesetzt, und er konnte sie weder loswerden noch daran glauben.
    Als er seine Wohnung betrat, sagte ihm sein über Jahre geschultes Radar, daß keiner zu Hause war. Er ging in die Küche, wo der Tisch voller Zeitungen lag, daneben offenbar Chiaras Hausaufgaben, karierte Blätter voller Zahlen und mathematischer Zeichen, mit denen Brunetti absolut nichts anfangen konnte. Er nahm eines der Blätter und besah es sich genauer, sah die ordentliche, etwas rechtslastige Handschrift seiner Tochter in einer langen Reihe von Zahlen und Symbolen, die, wenn er sich recht erinnerte, zu einer quadratischen Gleichung gehörten. War das nun Algebra? Trigonometrie? Es war so lange her und Brunetti war so unbegabt für Mathematik gewesen, daß er sich an fast nichts mehr erinnern konnte, obwohl er sich bestimmt vier Jahre lang damit hatte abplagen müssen.
    Er schob die Blätter beiseite und konzentrierte sich auf die Zeitungen, in denen der Mordfall Trevisan mit einem weiteren korrupten Senator und einem weiteren Bestechungsfall um die Aufmerksamkeit des Lesers buhlte. Es war schon Jahre her, seit Giudice Di Pietro die erste offizielle Anklage erhoben hatte, und noch immer regierten Verbrecher das Land. Alle führenden Politiker - zumindest hatte man den Eindruck, daß es alle waren -, die seit Brunettis Kindheit das Land regiert hatten, waren inzwischen mit Straftaten belastet und wieder belastet worden, belasteten sich jetzt sogar schon gegenseitig, und doch war es noch bei keinem einzigen von ihnen zum Prozeß oder gar zur Verurteilung gekommen, obwohl die Staatskasse völlig geplündert war. Jahrzehntelang hatten sie ihre Rüssel im öffentlichen Trog gehabt, aber nichts war offenbar stark genug, kein Volkszorn, kein Aufbranden nationalen Ekels, um sie aus dem Amt zu fegen. Er blätterte eine Seite um, sah die Fotos der beiden übelsten Figuren, des Buckligen und des Glatzenschweins, und schlug die Zeitung müde und angewidert zu. Nichts würde sich ändern. Brunetti wußte nicht wenig über diese Skandale, wußte, wohin ein großer Teil des Geldes geflossen war und wessen Name wahrscheinlich als nächster genannt würde, aber ganz sicher wußte er nur, daß nichts sich ändern würde. Lampedusa hatte es erfaßt, es mußte den Anschein der Veränderung geben, damit alles beim alten bleiben konnte. Es würde Wahlen geben, neue Gesichter und neue Versprechungen, aber dann würden lediglich andere Rüssel in den Trog getaucht, neue Konten eröffnet werden bei diskreten Privatbanken jenseits der Schweizer Grenze.
    Brunetti kannte diese Stimmung und fürchtete sie fast, diese immer neue Gewißheit, daß alles, was er tat, sinnlos war. Warum sich die Mühe machen, den Jungen, der in ein

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