Brunetti 04 - Vendetta
Ermittlungen unerläßlich sei, ein paar Worte mit ihr und möglichst auch mit Signor Martucci zu wechseln. Ihre Angaben, wo sie sich in der Nacht des Mordes an Trevisan aufgehalten hatten, waren inzwischen überprüft worden: Signora Trevisans Dienstmädchen bestätigte, daß ihre Herrin an diesem Abend das Haus nicht verlassen hatte, und ein Freund von Martucci hatte um halb zehn bei ihm angerufen und ihn zu Hause angetroffen.
Aus langer Erfahrung wußte Brunetti, daß es immer am besten war, die Leute selbst bestimmen zu lassen, wo sie befragt werden wollten: Sie wählten dann stets den Ort, an dem sie sich am wohlsten fühlten, und nährten so den irrigen Glauben, sie hätten mit der Ortswahl auch den Inhalt des Gesprächs in der Hand. Wie nicht anders erwartet, entschied Signora Trevisan sich für ihre Wohnung, wo Brunetti pünktlich um halb sechs ankam. Noch immer aufgewühlt von seiner Begegnung mit Silvestri, war Brunetti nicht bereit, auf irgendwelche Gastfreundlichkeit einzugehen. Ein Cocktail wäre ihm zu weltläufig, ein Tee zu geziert vorgekommen.
Aber nachdem Signora Trevisan, heute in gedecktem Marineblau, ihn in ein mit zu wenigen Stühlen und zuviel Geschmack möbliertes Zimmer geführt hatte, ging Brunetti auf, daß er im Gefühl seiner eigenen Bedeutung zuviel erwartet hatte und hier als Eindringling behandelt werden sollte, nicht als Vertreter der Staatsgewalt. Die Witwe gab ihm zwar die Hand, und Martucci erhob sich, als Brunetti eintrat, aber beide taten nicht mehr, als die Höflichkeit unbedingt erforderte. Brunetti argwöhnte, daß ihr Ernst und ihre langen Gesichter ihm demonstrieren sollten, wie sehr er ihre gemeinsame Trauer störte. Aber die Unterredung mit Richter Beniamin hatte Brunetti beiden gegenüber skeptisch gemacht, sein kurzes Gespräch mit Franco Silvestri vielleicht sogar skeptisch gegenüber der Menschheit allgemein.
Rasch leierte Brunetti seinen förmlichen Dank für ihre Bereitschaft zu diesem Gespräch herunter. Martucci nickte; Signora Trevisan gab nicht zu erkennen, daß sie ihn überhaupt gehört hatte.
»Signora Trevisan«, begann Brunetti. »Ich möchte gern etwas über die Finanzen Ihres Gatten erfahren.« Sie sagte nichts, verlangte keine Erklärung. »Können Sie mir sagen, was aus seiner Anwaltskanzlei wird?«
»Das können Sie mich fragen«, unterbrach ihn Martucci.
»Ich habe Sie vor zwei Tagen danach gefragt«, sagte Brunetti. »Sie haben mir wenig gesagt.«
»Inzwischen wissen wir mehr«, sagte Martucci.
»Heißt das, Sie haben das Testament gelesen?« fragte Brunetti und freute sich insgeheim, wie sehr seine Taktlosigkeit die beiden überraschte.
Martuccis Ton blieb ruhig und höflich. »Signora Trevisan hat mich gebeten, ihr bei der Regelung des Nachlasses als Anwalt zur Seite zu stehen, falls Sie das meinen.«
»Die Antwort tut's wahrscheinlich genausogut wie jede andere«, sagte Brunetti, der mit Interesse feststellte, daß Martucci sich nicht so leicht aus der Reserve locken ließ. Es mußte wohl die zivilrechtliche Übung sein, überlegte er, die allen immer die größte Höflichkeit abverlangte. Brunetti fuhr fort: »Was wird aus der Kanzlei?«
»Signora Trevisan behält sechzig Prozent.«
Brunetti sagte darauf so lange nichts, daß Martucci sich zu der Ergänzung gezwungen sah: »Und ich vierzig.«
»Darf ich fragen, wann dieses Testament aufgesetzt wurde?«
»Vor zwei Jahren«, antwortete Martucci ohne Zögern.
»Und wann sind Sie in Signor Trevisans Kanzlei eingetreten, Avvocato Martucci?«
Signora Trevisan richtete ihre sehr blassen Augen auf Brunetti und sprach zum erstenmal, seit sie hier hereingekommen waren. »Commissario, bevor Sie sich allzusehr in der Befriedigung Ihrer vulgären Neugier üben, darf ich wissen, worauf diese Fragen eigentlich hinauslaufen?«
»Wenn sie überhaupt auf etwas hinauslaufen, Signora, dann auf den Gewinn von Erkenntnissen, die uns zu der Person führen könnten, die Ihren Gatten ermordet hat.«
»Mir scheint«, begann sie, indem sie ihre Ellbogen auf die Sessellehnen stützte und die Hände vor sich zu einem Kirchturm formte, »das könnte ja nur dann der Fall sein, wenn ein Zusammenhang zwischen den Testamentsbestimmungen und dem Mord bestünde. Oder sehe ich das für Sie zu naiv?« Als Brunetti nicht sofort antwortete, bedachte sie ihn mit einem flüchtigen Lächeln. »Es könnte doch sein, daß manche Dinge Ihnen einfach als zu naiv gesehen erscheinen, nicht wahr, Commissario?«
»Ganz gewiß,
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