Brunetti 04 - Vendetta
auf dem Flur und völlig hysterisch. Du hast sie ja gehört. Ich wollte sie in den Arm nehmen, mit ihr reden, aber sie konnte einfach nicht mit Schreien aufhören. Jetzt ist sie in ihrem Zimmer.«
»Was ist denn passiert?«
»Sie hatte ein Video mitgebracht und es sich angesehen.«
»Wo hatte sie das her?«
»Guido«, begann sie, immer noch schwer atmend, aber jetzt langsamer, »es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe.«
»Schon gut. Woher hatte sie das Video?«
»Von Francesca.«
»Trevisan?«
»Ja.«
»Hast du es dir angesehen?«
Sie nickte.
»Was ist drauf?«
Diesmal bewegte sie nur langsam den Kopf hin und her. Dann hob sie hilflos einen Arm und zeigte zum Wohnzimmer.
»Hat sie sich jetzt etwas beruhigt?«
»Ja. Vor ein paar Minuten hat sie mich in ihr Zimmer gelassen. Ich habe ihr zwei Aspirin gegeben und gesagt, sie soll sich hinlegen. Sie will mit dir reden. Aber du sollst dir zuerst das Video ansehen.«
Brunetti nickte und ging zum Wohnzimmer, wo Fernseher und Videorecorder standen. »Solltest du nicht lieber bei ihr bleiben, Paola?«
»Ja«, sagte Paola und ging hinüber zu Chiaras Zimmer.
Im Wohnzimmer fand Brunetti sowohl den Fernseher als auch den Videorecorder eingeschaltet, ein Band eingelegt, das bis zum Ende durchgelaufen war. Er drückte den Rücklauf und richtete sich auf, während er wartete und dem schlangenähnlichen Zischen des Bandes in dem Gerät lauschte. Er dachte an gar nichts, konzentrierte sich darauf, seinen Kopf von allen Möglichkeiten zu leeren.
Ein leises Klicken holte ihn zurück. Er drückte auf PLAY. Dann setzte er sich auf einen Stuhl. Es kam kein Vorspann, kein Logo, kein Ton. Das schimmernde Grau verschwand, und auf dem Bildschirm erschien ein Zimmer mit zwei Fensterluken hoch oben in der einen Wand, drei Stühlen und einem Tisch. Die Beleuchtung kam von den Fenstern und, wie er vermutete, noch von einer anderen Lichtquelle hinter demjenigen, der die Kamera hielt, denn an der leichten Unruhe des Bildes sah man, daß aus der Hand gefilmt wurde.
Ein Ton kam aus dem Fernseher, und die Kamera schwenkte zu einer Tür, die aufging und drei junge Männer ins Zimmer ließ, die sich lachend und einander schubsend hereindrängten. Als sie drinnen waren, drehte der letzte sich um und griff nach etwas hinter der Tür. Kurz darauf zerrte er eine Frau herein, und hinter ihr drängten drei weitere Männer ins Zimmer.
Die drei ersten schienen zwischen zwölf und fünfzehn Jahren alt zu sein, zwei andere waren vielleicht in Brunettis Alter, und der letzte, der hinter der Frau ins Zimmer kam, war etwa Mitte Dreißig. Alle trugen Hemden und Hosen, die irgendwie militärisch wirkten, und alle hatten Schnürstiefel mit dicken Sohlen an.
Die Frau, vielleicht Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, trug einen dunklen Rock und Pullover. Sie war ungeschminkt, und ihr Haar hing offen und wirr herunter, als wäre es aus einem Knoten oder unter einem Kopftuch hervorgezogen worden. Obwohl es ein Farbfilm war, konnte man unmöglich die Farbe ihrer Augen erkennen, nur daß sie dunkel und angsterfüllt waren.
Brunetti hörte die Männer reden, aber er verstand nicht, was sie sagten. Die drei jüngsten lachten über etwas, was einer der älteren sagte, aber die Frau drehte sich zu ihm um, nachdem er gesprochen hatte, und sah ihn an, als könnte oder wollte sie nicht glauben, was sie gehört hatte. In unbewußter Schamhaftigkeit kreuzte sie die Arme vor ihrer Brust und senkte den Kopf.
Eine ganze Weile sagte niemand etwas, keiner bewegte sich, bis eine Stimme ganz in der Nahe der Kamera etwas rief, aber keine der Personen im Bild hatte gesprochen. Es dauerte einen Moment, bis Brunetti klar wurde, daß es der Kameramann gewesen sein mußte. Nach dem Ton zu urteilen, war es wohl ein Kommando oder irgendeine Ermunterung gewesen. Die Frau hob bei den Worten ruckartig den Kopf und blickte zur Kamera, aber nicht ins Objektiv, sondern etwas links daran vorbei zu dem, der sie hielt. Die Stimme neben der Kamera redete wieder, diesmal lauter, und diesmal traten die Männer daraufhin in Aktion.
Zwei der Jungen stellten sich rechts und links neben die Frau und packten sie an den Armen. Der in den Dreißigern ging zu ihr und sagte etwas. Sie schüttelte den Kopf, und er versetzte ihr einen Faustschlag. Es war keine Ohrfeige, sondern ein Faustschlag, der sie unmittelbar vor dem Ohr traf. Dann zog er seelenruhig ein Messer aus dem Gürtel und schlitzte ihren Pullover an der Vorderseite von oben bis
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