Brunetti 04 - Vendetta
gleich, seine Hand in die offene Wunde gelegt, und es blieb ihm keine andere Wahl mehr, als es zu glauben.
Er schaltete Fernseher und Videogerät aus. Dann ging er über den Flur zu Chiaras Zimmer. Die Tür stand offen, und er trat ohne anzuklopfen ein. Chiara lag in ihre Kissen zurückgelehnt. Sie hatte einen Arm um Paola gelegt, die auf der Bettkante saß, mit dem anderen hielt sie ihren abgekauten und vielgezausten Plüschhund an sich gedrückt, den sie zum sechsten Geburtstag bekommen hatte.
»Ciao, papà«, sagte sie, als er hereinkam. Sie sah zu ihm auf, lächelte aber nicht.
»Ciao, angelo«, sagte er und ging näher an ihr Bett. »Es tut mir leid, daß du das gesehen hast, Chiara.« Er fand sich selbst so dumm wie seine Worte.
Chiara sah ihn scharf an, versuchte aus seinen Worten einen Vorwurf herauszuhören, hörte aber keinen, nur bittere Zerknirschung, die zu erkennen sie noch zu jung war. »Haben sie die Frau wirklich umgebracht, papà« fragte sie, womit sie sogleich seine Hoffnung zunichte machte, daß sie vielleicht vor dem Filmende geflüchtet war.
Er nickte. »Ich fürchte ja, Chiara.«
»Warum?« fragte sie, in der Stimme ebensoviel Unverständnis wie Entsetzen.
Seine Gedanken stoben auf, flohen das Zimmer. Er versuchte Hehres zu denken, wollte seinem Kind so gern etwas Tröstliches sagen, es überzeugen, daß die Welt entgegen aller Niedertracht, die sie gesehen hatte, dennoch ein Ort war, an dem solche Dinge die Ausnahme waren, daß die Menschheit dennoch von Natur und Neigung gut war.
»Warum, papà? Warum tun die so was?«
»Ich weiß es nicht, Chiara.«
»Aber die haben sie richtig getötet?« fragte sie wieder.
»Sprich nicht mehr davon«, unterbrach Paola sie und bückte sich, um ihr Gesicht zu küssen, während sie den Arm fester um sie schlang.
Unbeirrt wiederholte Chiara: »Richtig getötet, papà?«
»Ja, Chiara.«
»Sie ist wirklich gestorben?«
Paola sah zu ihm auf, versuchte ihn mit ihrem Blick zum Schweigen zu bringen, aber er antwortete: »Ja, Chiara, sie ist wirklich gestorben.«
Chiara zog ihren zerzausten Hund auf den Schoß und sah starr auf ihn hinunter.
»Wer hat dir dieses Video gegeben, Chiara?« fragte er.
Sie zog an einem der langen Hundeohren, aber vorsichtig, weil sie wußte, daß es das kaputte war. »Francesca«, antwortete sie schließlich. »Heute morgen vor der ersten Stunde hat sie es mir gegeben.«
»Hat sie etwas dazu gesagt?«
Chiara nahm den Hund hoch und stellte ihn mit den Hinterbeinen auf die Bettdecke. Schließlich antwortete sie: »Sie sagt, sie habe gehört, daß ich wegen der Sache mit ihrem Vater nach ihr herumfrage. Sie hat sich gedacht, daß ich es für dich tue, weil du doch Polizist bist. Und dann hat sie gesagt, ich soll mir das Video ansehen, wenn ich wissen will, warum jemand ihren Vater hätte umbringen wollen.« Sie ließ den Hund wackelnd auf sich zukommen.
»Hat sie noch etwas gesagt, Chiara?«
»Nein, papà, nur das.«
»Weißt du, woher sie das Video hat?«
»Nein. Sie hat nur das gesagt, daß es zeigt, warum jemand ihren Vater hätte umbringen wollen. Aber was hat Francescas Vater damit zu tun?«
»Ich weiß es nicht.«
Paola stand so unvermittelt auf, daß Chiara ihren Plüschhund losließ und dieser auf den Boden fiel. Paola bückte sich danach, packte ihn mit einer Hand und hielt das abgegriffene Stofftier einen Moment mit fast tödlichem Griff umklammert. Dann bückte sie sich ganz langsam und legte es auf Chiaras Schoß zurück, strich ihrer Tochter übers Haar und verließ das Zimmer.
»Was waren das für Männer, papà?«
»Ich glaube, es waren Serben, aber sicher weiß ich das nicht. Es muß sich jemand anhören, der die Sprache versteht, dann wissen wir es.«
»Was machst du jetzt, papà? Wirst du sie verhaften und ins Gefängnis stecken?«
»Ich weiß es nicht, Schätzchen. Es wird nicht leicht sein, sie zu finden.«
»Aber sie gehören doch ins Gefängnis, oder?«
»Ja.« »Was denkst du, wie Francesca das mit ihrem Vater gemeint hat?« Ihr fiel eine Möglichkeit ein, und sie fragte: »Er war doch nicht der Mann mit der Kamera, nein?«
»Nein, sicher nicht.«
»Was hat sie denn dann gemeint?«
»Ich weiß es nicht. Das muß ich ja eben herausfinden.« Er sah, wie sie die Ohren des Hundes zusammenzuknoten versuchte. »Chiara?«
»Ja, papà?« Sie sah ihn an, voll Vertrauen darauf, daß er jetzt etwas sagen würde, das alles wieder gutmachen, alles in Ordnung bringen würde, als ob es nie
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