Brunetti 05 - Acqua alta
wieder auf seinen Platz. Unter anderen Umständen wäre der Zwischenfall vielleicht komisch gewesen, aber keiner von ihnen lachte. In schweigender Übereinkunft übergingen sie ihn, und Brunetti wiederholte seine Frage. »Wann ist sie umgekommen?«
Brett hatte wohl beschlossen, aus Gründen der Zeitersparnis alle seine Fragen sofort zu beantworten. »Etwa drei Wochen nachdem ich meinen ersten Brief an Semenzato abgeschickt hatte«, sagte sie.
»Und wann war das?«
»Mitte Dezember. Ich habe ihre Leiche nach Tokio gebracht. Das heißt, ich bin mitgeflogen. Mit ihr.« Sie unterbrach sich, ihre Stimme versagte angesichts einer Erinnerung, an der sie Brunetti nicht teilhaben lassen mochte.
»Ich wollte zu Weihnachten nach San Francisco«, fuhr sie fort. »Da bin ich früher abgefahren und drei Tage in Tokio geblieben. Ich habe ihre Familie besucht.« Wieder eine lange Pause. »Danach bin ich weiter nach San Francisco geflogen.«
»Und dann?« fragte Brunetti.
»Zurück nach China«, antwortete Brett schlicht.
»Ohne Semenzato anzurufen?«
Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
Flavia kam gerade aus der Küche, auf der einen Hand ein silbernes Tablett mit drei hohen Champagnerflöten, die andere um den Hals einer Flasche Dom Perignon gelegt wie um einen Tennisschläger. Keine vornehme Zurückhaltung hier, nicht beim Champagner nach dem Frühstück.
Sie hatte die letzten Sätze mitbekommen und fragte: »Erzählst du Guido gerade von unserer fröhlichen Weihnacht?« Daß sie seinen Vornamen gebrauchte, entging beiden ebensowenig wie die Betonung auf dem Wort »fröhlich«.
Brunetti nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf den Tisch. Flavia goß großzügig Champagner in die Gläser. Aus dem einem schäumte er über, floß aufs Tablett hinunter und über dessen Rand gefährlich nah an das Buch, das noch immer offen auf dem Tisch lag. Brett klappte es schnell zu und legte es neben sich aufs Sofa. Flavia reichte Brunetti ein Glas, stellte eines an den Platz, wo sie selbst gesessen hatte, und gab das dritte Brett.
»Cin, cin«, rief Flavia mit aufgesetzter Heiterkeit, und sie hoben die Gläser. »Wenn wir über San Francisco reden, brauche ich wenigstens Champagner.« Sie setzte sich den beiden anderen gegenüber und trank einen so großen Schluck aus ihrem Glas, daß von Nippen keine Rede sein konnte.
Brunetti sah sie fragend an, und sie beeilte sich zu erklären: »Ich habe dort gesungen. Die Tosca. Gott, war das eine Katastrophe.« Mit einer Geste, die so bewußt theatralisch war, daß sie sich selbst lächerlich machte, schlug sie sich den Handrücken vor die Stirn, schloß die Augen und fuhr fort: »Wir hatten einen deutschen Regisseur, der ein ›Konzept‹ hatte. Unglücklicherweise bestand dieses Konzept darin, die Oper ›relevant‹ zu machen« - sie sprach das Wort mit ganz besonderer Verachtung aus - »und sie in die Zeit der rumänischen Revolution zu verlegen. Scarpia sollte Ceausescu sein oder wie sich dieser gräßliche Mensch sonst ausspricht. Ich war zwar noch immer die große Diva, aber eine aus Bukarest, nicht aus Rom.« Bei der Erinnerung bedeckte sie mit der Hand die Augen, sprach aber weiter. »Ich weiß noch, daß Panzer und Maschinengewehre auf der Bühne waren, und in einer Szene mußte ich eine Handgranate in meinem Dekollete verstecken.«
»Vergiß das Telefon nicht«, sagte Brett, eine Hand vor dem Mund, um nicht loszulachen.
»Ach du gütiger Himmel, ja, das Telefon. Daß ich das vergessen habe, zeigt schon, wie sehr ich mich bemüht habe, es aus meinem Gedächtnis zu streichen.« Sie sah Brunetti an, trank einen Schluck, der viel eher zu Mineralwasser als zu Champagner gepaßt hätte, und fuhr fort, wobei ihr der Schalk aus den Augen blitzte. »Mitten in Vissi d'arte sollte ich nach den Vorstellungen des Regisseurs um Hilfe telefonieren. Also, da lag ich nun ausgestreckt auf dem Sofa und versuchte Gott klarzumachen, daß ich das alles nicht verdiente, was ja auch stimmte, als Scarpia - ich glaube, er war wirklich Rumäne, jedenfalls habe ich nie ein Wort von dem verstanden, was er sagte -« Sie hielt kurz inne und setzte hinzu: »Oder sang.«
Brett unterbrach sie, um zu korrigieren: »Er war Bulgare, Flavia.«
Flavia winkte, obwohl ihr das Glas im Weg war, mit einer lockeren Handbewegung ab. »Alles dasselbe, cara. Die sehen alle aus wie Kartoffeln und stinken nach Paprika. Und sie schreien alle so, besonders die Soprane.« Sie leerte ihr Glas und schwieg nur so lange,
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