Brunetti 05 - Acqua alta
könnte, ins Lächerliche. Da Brett diese Geschichte ihrer ersten Begegnung wahrscheinlich kannte, nahm Brunetti an, daß die Erklärung für ihn gedacht war.
»Semenzato hat mich überall herumgeführt, aber ich hatte nachmittags eine Probe und war ihm gegenüber vielleicht ein bißchen kurz angebunden.« Kurz angebunden? Brunetti hatte Flavia schon in schlechter Laune erlebt, und kurz angebunden war dafür wohl kaum das richtige Wort.
»Er hat mir dauernd versichert, wie sehr er meine Kunst bewundert.« Sie hielt inne, beugte sich zu Brunetti vor und legte ihm eine Hand auf den Arm, während sie weitersprach. »Das heißt bei solchen Leuten immer, daß sie mich noch nie singen gehört haben und wahrscheinlich auch nicht viel davon hätten, aber sie haben immerhin gehört, daß ich berühmt bin, und darum glauben sie mir Komplimente machen zu müssen.« Nach dieser Erklärung nahm sie ihre Hand wieder weg und lehnte sich zurück. »Ich hatte, während er mir zeigte, wie wunderbar die Ausstellung war« - hier sah sie Brett an und fügte hinzu: »und das war sie ja auch«, bevor sie sich wieder Brunetti zuwandte - »die ganze Zeit das Gefühl, daß er mir eigentlich klarmachen wollte, wie wunderbar er war, weil er die Idee gehabt hatte. Obwohl es gar nicht seine war. Aber das wußte ich damals nicht, nämlich daß es eigentlich Bretts Ausstellung war. Kurz und gut, er war mir zu sehr von sich überzeugt, und das hat mir nicht gefallen.«
Brunetti konnte sich gut vorstellen, daß sie nicht gern andere Menschen neben sich hatte, die von sich überzeugt waren. Nein, das war ungerecht, denn sie spielte sich nicht in den Vordergrund. Er mußte zugeben, daß er sich in ihr geirrt hatte, als er das letzte Mal mit ihr zu tun hatte. Hier war keine Eitelkeit im Spiel, sie wußte nur um ihren eigenen Wert, ihr Talent, und er wußte genug über ihre Vergangenheit, um zu verstehen, wie schwer sie sich alles verdient haben mußte.
»Aber dann kamst du mit einem Glas Champagner und hast mich vor ihm gerettet«, sagte sie lächelnd zu Brett.
»Keine schlechte Idee, Champagner«, meinte Brett, um Flavias Erinnerungsstrom ein Ende zu setzen, und Brunetti fand es frappierend, wie sehr ihre Reaktion der von Paola ähnelte, wenn er zu erzählen anfing, wie sie sich kennengelernt hatten, daß sie nämlich in der Universitätsbibliothek am Ende eines Ganges einfach zusammengestoßen waren. Wie oft hatte sie ihn im Verlauf ihres Zusammenlebens dann gebeten, ihr etwas zu trinken zu holen, oder ihn dadurch unterbrochen, daß sie jemand anderem eine Frage stellte. Und warum erzählte er diese Geschichte so gern? Rätsel über Rätsel.
Flavia verstand den Wink, stand auf und ging durchs Zimmer. Es war halb zwölf Uhr vormittags, aber wenn den beiden nach Champagner war, stand es ihm wohl kaum zu, sie davon abzuhalten.
Brett blätterte eine Seite in dem Buch um, doch während sie es sich auf dem Sofa bequem machte, klappte die Seite wieder zurück, und Brunetti sah den goldenen Stier, von dem ein Teilstück Semenzato erschlagen hatte.
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?« fragte Brunetti.
»Ich habe bei der China-Ausstellung vor einigen Jahren mit ihm zusammengearbeitet. Unsere Kontakte waren hauptsächlich brieflich, denn ich war ja während der Vorbereitungsarbeiten die meiste Zeit in China. Ich habe eine Reihe von Ausstellungsstücken vorgeschlagen und ihm Fotos davon sowie Maß- und Gewichtsangaben geschickt, denn alles mußte per Luftfracht von Xi'an und Peking nach New York und London zu den dortigen Ausstellungen geschickt werden, dann nach Mailand und per Lastwagen oder Schiff hierher.« Sie hielt kurz inne, dann fuhr sie fort: »Persönlich habe ich ihn erst kennengelernt, als ich hierherkam, um die Ausstellung aufzubauen.«
»Wer hatte zu entscheiden, welche Stücke aus China hierhergeschickt werden sollten?«
Sie verzog bei dieser Frage das Gesicht in nachträglicher Verzweiflung. »Wer weiß?« Als er das offensichtlich nicht verstand, versuchte sie zu erklären. »Beteiligt waren die chinesische Regierung, das heißt ihr Ministerium für Kulturschätze und das Außenministerium; auf unserer Seite« - er hörte sehr wohl, daß sie Venedig ganz unbewußt als ›unsere Seite‹ bezeichnete - »das Museum, das Amt für Kulturschätze, die Guardia di Finanza, das Kulturministerium und noch einige andere Stellen, die zu vergessen ich mich sehr bemüht habe.« Sie ließ im Geiste noch einmal die ganze Bürokratie Revue passieren.
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