Brunetti 05 - Acqua alta
sie hier ankam, sagte sie, sie habe keinen Rückflug reserviert.« Sie sah Brunettis fragenden Blick. »Es hing davon ab, was sie von Semenzato erfahren würde.« An ihrem Ton merkte er, daß dies nur ein Teil der Erklärung war. Er wartete. »Aber zum Teil hing es wohl auch von mir ab.« Sie hielt inne, blickte an Brunetti vorbei, dann rasch wieder zu ihm. »Sie hat mir ein Angebot verschafft, am Konservatorium von Peking Meisterklassen zu unterrichten. Ich sollte mit ihr hin.«
»Und?« fragte er endlich.
»Wir hatten noch nicht darüber gesprochen, als das passierte.«
»Und seitdem auch nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
Brunetti fiel plötzlich auf, daß Brett schon sehr lange fort war. »Ist das die einzige Tür?« fragte er.
Seine Frage kam so unvermittelt, daß Flavia einen Augenblick brauchte, ehe sie verstand, was er meinte.
»Ja. Es gibt keinen anderen Weg nach draußen. Oder herein. Und das Dach ist separat. Man hat von hier aus keinen Zugang.« Sie stand auf. »Ich gehe mal nachsehen, was sie macht.«
Sie blieb lange weg. Währenddessen nahm Brunetti das Buch, das Brett auf dem Sofa hatte liegenlassen, und blätterte darin herum. Lange betrachtete er das Foto vom Ischtartor und versuchte festzustellen, welches Stück davon Semenzato umgebracht hatte. Es war wie ein Puzzle, aber er konnte das fehlende Teil, das im Labor der Questura lag, nicht in das vor ihm liegende Gesamtbild einzufügen.
Es dauerte beinah zehn Minuten, bis Flavia zurückkam. Sie blieb beim Sprechen am Tisch stehen, um Brunetti wissen zu lassen, daß ihr Gespräch beendet war. »Sie schläft. Die Schmerztabletten, die sie nimmt, sind sehr stark, und es ist wohl auch ein Beruhigungsmittel darin. Der Champagner hat das Seine dazugetan. Sie wird sicher bis nachmittags schlafen.«
»Ich muß noch einmal mit ihr sprechen«, sagte er.
»Hat das Zeit bis morgen?« Es war eine schlichte Frage, kein gebieterisches Verlangen.
Eigentlich hatte es keine Zeit, aber was sollte er machen? »Ja. Ist es recht, wenn ich etwa um dieselbe Zeit komme?«
»Natürlich. Ich sage es ihr. Und ich werde den Champagner zu rationieren versuchen.« Das Gespräch mochte beendet sein, aber der Waffenstillstand schien zu halten.
Brunetti, der inzwischen fand, daß Dom Perignon ein hervorragendes Vormittagsgetränk war, hielt das für eine unnötige Vorsichtsmaßnahme und hoffte, daß Flavia bis morgen ihre Meinung wieder ändern würde.
12
Ist das beginnender Alkoholismus? dachte Brunetti, als er sich auf dem Rückweg zur Questura dabei ertappte, daß er am liebsten gleich in die nächste Bar gehen und noch ein Glas Champagner trinken würde. Oder war es nur die unvermeidliche Reaktion darauf, daß er heute vormittag mit Patta sprechen mußte? Ersteres schien ihm erstrebenswerter.
Als er die Tür zu seinem Zimmer aufmachte, schlug ihm eine derartige Hitzewoge entgegen, daß er sich unwillkürlich umschaute, ob sie womöglich irgendeine unschuldige Seele auf dem Korridor erdrückte, die nicht mit den Launen des Heizungssystems vertraut war. Jahr für Jahr brach etwa zum Fest der heiligen Agatha am fünften Februar in allen Nordzimmern im vierten Stock der Questura die große Hitze aus, während sie sich zur selben Zeit aus den nach Süden gelegenen Zimmern im dritten Stock zurückzog. Das blieb ungefähr drei Wochen so, gewöhnlich bis zum Fest des heiligen Leander, dem die meisten Leute in der Questura für ihre Erlösung zu danken geneigt waren. Dieses Phänomen hatte bisher niemand durchschauen oder ändern können, obwohl es schon seit mindestens fünf Jahren auftrat. Immer wieder hatten sich Techniker an der Zentralheizungsanlage versucht, hatten sie inspiziert, neu eingestellt und überholt, verflucht und mit Füßen getreten, aber nie in Ordnung gebracht. Inzwischen hatten die Mitarbeiter in den Büros auf diesen beiden Stockwerken resigniert und ergriffen die notwendigen Maßnahmen, die einen zogen ihre Jacken aus, die anderen Handschuhe an.
Für Brunetti war das Heizungsphänomen so eng mit dem Fest der heiligen Agatha verbunden, daß er nie eine Darstellung der Märtyrerin - stets mit ihren beiden abgeschnittenen Brüsten auf einem Tablett - ansehen konnte, ohne sich vorzustellen, daß es zwei zusammengehörige Teile der Zentralheizung waren, vielleicht zwei große Dichtungen.
Er ging durchs Zimmer, entledigte sich unterwegs seines Mantels und Jacketts und stieß die beiden hohen Fenster auf. Schlagartig war ihm kalt, und er nahm das Jackett
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