Brunetti 05 - Acqua alta
eigentlich nicht. »Nein, Vice-Questore. Die Dottoressa schien sehr bestürzt über den Tod der jungen Frau und die Möglichkeit, daß sie mit den Vorgängen hier irgend etwas zu tun gehabt haben könnte, aber weiter war nichts.«
»Wissen Sie das ganz sicher, Brunetti?« Patta kniff bei dieser Frage doch tatsächlich die Augen zusammen.
»Absolut sicher, Vice-Questore. Ich würde meinen Ruf darauf verwetten.« Wie immer, wenn er Patta anschwindelte, sah Brunetti ihm direkt in die Augen und achtete darauf, daß die seinen weit offenblieben, sein Blick ganz aufrichtig wirkte. »Soll ich fortfahren?« Kaum hatte er das ausgesprochen, merkte Brunetti, daß er gar nichts weiter zu sagen hatte, jedenfalls nicht zu Patta, dem er gewiß nicht auf die Nase binden würde, daß die Familie der jungen Japanerin reich war und sie daher vermutlich kein finanzielles Interesse daran gehabt hatte, Ausstellungsstücke durch Fälschungen zu ersetzen. Bei der Vorstellung, wie Patta wohl auf Eifersucht als mögliches Motiv reagieren würde, empfand Brunetti eine leichte Übelkeit.
»Meinen Sie, diese Japanerin hat gewußt, daß Fälschungen nach China zurückgeschickt wurden?«
»Möglich ist es, Vice-Questore.«
»Aber es ist nicht möglich«, sagte Patta entschieden, »daß sie das selbst in die Hand genommen hat. Sie muß hier in Venedig Helfer gehabt haben.«
»So sieht es aus, Vice-Questore. Ich gehe dieser Möglichkeit gerade nach.«
»Wie?«
»Ich habe eine Untersuchung der Finanzen von Dottor Semenzato eingeleitet.«
»Wer hat das veranlaßt?« blaffte Patta.
»Ich selbst.«
Patta ließ das durchgehen. »Und was noch?«
»Ich habe schon mit einigen Leuten über Semenzato gesprochen und erwarte Informationen über seinen eigentlichen Ruf.«
»Was verstehen Sie unter ›eigentlichem Ruf‹?«
Oh, wie selten liefert uns das Schicksal den Feind in die Hand, auf daß wir nach Belieben mit ihm verfahren! »Meinen Sie nicht, Vice-Questore, daß jeder Inhaber eines Amtes so etwas wie einen offiziellen Ruf hat, nämlich was die Leute öffentlich über ihn sagen, und einen eigentlichen, was die Leute wissen und im privaten Kreis über ihn sagen?«
Patta legte seine Rechte mit der Handfläche nach oben auf den Schreibtisch, drehte mit dem Daumen den Ring an seinem kleinen Finger und prüfte nach, ob er richtig herum gedreht hatte. »Möglich. Möglich.« Er sah auf. »Weiter, Brunetti.«
»Ich dachte, ich fange damit erst einmal an und werde sehen, wohin es mich führt.«
»Ja, das klingt recht vernünftig«, meinte Patta. »Und denken Sie daran, ich will über alles unterrichtet werden, was Sie tun oder herausfinden.« Er schob die Manschette hoch und warf einen Blick auf seine Rolex Oyster. »Dann will ich Sie auch nicht länger davon abhalten, Brunetti.«
Brunetti stand auf. Er wußte, wann Pattas Mittagsstunde schlug. Auf dem Weg zur Tür war er nur noch neugierig darauf, mit welchen Worten sein Vorgesetzter ihn daran erinnern würde, daß er Brett mit Samthandschuhen anzufassen habe.
»Und, Brunetti«, sagte Patta, als Brunetti schon an der Tür war.
»Ja, Vice-Questore?« Er war jetzt wirklich neugierig, was er bei Patta selten war.
»Ich möchte, daß Sie Dottoressa Lynch mit Samthandschuhen anfassen.«
Aha. Wortwörtlich.
13
Brunetti wieder in seinem Büro war, rief er, nachdem er das Fenster geöffnet hatte, als erstes Lele an. Da in dessen Wohnung niemand an den Apparat ging, versuchte Brunetti es in der Galerie, wo der Maler nach sechsmaligem Klingeln abnahm. »Allò?«
»Ciao, Lele, hier ist Guido. Ich dachte, ich rufe dich mal an und höre, ob du etwas herausfinden konntest.«
»Über diese Person?« fragte Lele, woraus Brunetti schloß, daß er nicht offen reden konnte.
»Ja. Ist jemand bei dir?«
»Ach ja, jetzt wo Sie es sagen, fällt es mir ein. Es stimmt. Sind Sie noch eine Weile in Ihrem Büro, Signor Scarpa?«
»Ja. Eine Stunde vielleicht.«
»Gut, Signor Scarpa. Dann rufe ich zurück, wenn ich wieder Zeit habe.«
»Danke, Lele«, sagte Brunetti und legte auf.
Wer das wohl war, dem Lele nicht enthüllen wollte, daß er mit einem Commissario der Polizei sprach?
Brunetti wandte sich den Unterlagen in seiner Akte zu und machte hier und dort eine Anmerkung. Er hatte schon verschiedentlich mit dem Sonderdezernat für Kunstdiebstahl zu tun gehabt, aber im Moment konnte er ihnen nur Semenzatos Namen anbieten und nicht den geringsten Beweis. Vielleicht hatte Semenzato ja wirklich einen Ruf, der
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