Brunetti 05 - Acqua alta
rasch wieder vom Schreibtisch, wohin er es eben geworfen hatte. Im Lauf der Jahre hatte er für das Öffnen und Schließen der Fenster einen Rhythmus entwickelt, der einerseits die Raumtemperatur wirkungsvoll unter Kontrolle hielt, andererseits ihn aber daran hinderte, sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Stand der Hausmeister vielleicht im Dienst der Mafia? Wenn man den Zeitungen glaubte, war das bei jedem zweiten der Fall, der bei der Polizei arbeitete, warum also nicht beim Hausmeister?
Auf dem Schreibtisch lagen die üblichen Personalakten, Anfragen anderer Polizeidienststellen im Land und Briefe venezianischer Bürger. In einem bat ihn eine Frau von der kleinen Insel Torcello, persönlich nach ihrem Sohn zu suchen, der angeblich von den Syrern gekidnappt worden war. Die Frau war verrückt, und jeden Monat bekam ein anderer Polizeibeamter einen Brief von ihr: Immer ging es um den gar nicht existierenden Sohn, nur die Kidnapper waren jedesmal andere, je nach Lage der Weltpolitik.
Wenn er sofort hinging, konnte er noch vor dem Mittagessen mit Patta sprechen. Von diesem hellen Strahl der Hoffnung geleitet, nahm Brunetti die dünne Akte über die Fälle Semenzato und Lynch und machte sich auf den Weg zu Patta.
Zwar lachten ihm frische Iris entgegen, aber Signorina Elettra war nicht an ihrem Platz. Wahrscheinlich im Blumengeschäft, um für Nachschub zu sorgen. Brunetti klopfte und wurde hereingerufen. In Pattas Zimmer herrschten, da es von den Unwägbarkeiten des Heizungssystems verschont war, genau die richtigen zweiundzwanzig Grad, eine ideale Temperatur, die ihm den Luxus erlaubte, sein Jackett abzulegen, falls das Arbeitstempo zu hektisch werden sollte. Da ihm diese Notwendigkeit bisher erspart geblieben war, saß er mit aufgeknöpftem Mohairjackett hinter seinem Schreibtisch, die brillantgeschmückte Krawattennadel genau an der richtigen Stelle. Wie immer sah Patta aus wie soeben von einer römischen Münze entwischt, die großen braunen Augen vollkommen angeordnet inmitten der übrigen Vollkommenheit seines Gesichts.
»Guten Morgen, Vice-Questore«, sagte Brunetti und setzte sich auf den Stuhl, den Patta ihm mit einer kleinen Handbewegung anwies.
»Guten Morgen, Brunetti.« Als Brunetti seine Akte auf Pattas Schreibtisch legen wollte, winkte sein Vorgesetzter ab. »Das habe ich schon alles gelesen. Ausführlich. Wie ich dem entnehme, gehen Sie davon aus, daß der Angriff auf Dottoressa Lynch und der Mord an Dottor Semenzato zusammenhängen.«
»Ja, das nehme ich an. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es anders sein könnte.«
Brunetti dachte schon, Patta würde jetzt, wie gewöhnlich, jeder geäußerten Gewißheit widersprechen, die nicht seine eigene war, aber er überraschte Brunetti, indem er nickte und sagte: »Wahrscheinlich haben Sie recht, Brunetti. Was haben Sie bisher unternommen?«
»Ich habe mit Dottoressa Lynch gesprochen«, begann er, doch Patta unterbrach ihn.
»Ich hoffe, Sie sind höflich mit ihr umgegangen.«
Brunetti begnügte sich mit einem schlichten: »Ja, Vice-Questore.«
»Gut, gut. Sie ist eine bedeutende Wohltäterin der Stadt und muß entsprechend behandelt werden.«
Brunetti ließ das an sich abperlen und nahm seinen Faden wieder auf. »Es gab da eine japanische Assistentin, die zum Ende der Ausstellung herkam und die Exponate nach China zurückschicken sollte.«
»Dottoressa Lynchs Assistentin?«
»Ja, Vice-Questore.«
»Also eine Frau?« fragte Patta mit scharfer Betonung.
Brunetti mußte schlucken, bevor er antwortete, so abschätzig hatte das Wort aus Pattas Mund geklungen. »Ja, ja, eine Frau.«
»Aha.«
»Soll ich fortfahren, Vice-Questore?«
»Ja, sicher, natürlich.«
»Dottoressa Lynch sagt, daß diese Frau bei einem Unfall in China umgekommen ist.«
»Was für ein Art Unfall?« fragte Patta, als könnte sich dabei nur herausstellen, daß dieser Unfall eine unausweichliche Folge ihrer sexuellen Neigungen war.
»Sie ist auf dem Ausgrabungsgelände gestürzt, wo die beiden zusammen arbeiteten.«
»Wann war das?«
»Vor sechs Wochen. Und zwar nachdem Dottoressa Lynch einen Brief an Dottor Semenzato geschrieben hatte, in dem sie ihm mitteilte, daß einige der zurückgeschickten Stücke aus der hiesigen Ausstellung ihrer Meinung nach Fälschungen seien.«
»Und diese Frau, die da umgekommen ist, hatte sie eingepackt?«
»Wie es aussieht, ja.«
»Haben Sie Dottoressa Lynch gefragt, in welcher Beziehung sie zu dieser Frau stand?«
Das hatte er ja nun
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