Brunetti 05 - Acqua alta
dieses feine Netz aus persönlichen Gefälligkeiten das gesamte soziale System überspannte. Das lief alles so selbstverständlich ab: Jemand sprach mit einem Freund oder unterhielt sich mit einem Vetter, und es wurden Informationen ausgetauscht. Diese Informationen ergaben dann eine neue Bilanz von Soll und Haben. Früher oder später wurde alles zurückgezahlt, wurden alle Schulden eingetrieben.
»Wer ist der Inhaber dieser Antiquitätenläden?«
»Francesco Murino. Neapolitaner. Ich hatte mit ihm geschäftlich zu tun, als er vor Jahren seinen Laden in Venedig eröffnete, und er ist un vero figlio di migniotta. Wenn hier etwas Krummes läuft, kannst du Gift drauf nehmen, daß er die Hand im Spiel hat.«
»Hat er das Geschäft am Campo di Santa Maria Formosa?«
»Ja. Kennst du ihn?«
»Nur vom Sehen. Er ist nie aktenkundig geworden, soweit ich weiß.«
»Guido, ich habe doch gesagt, er ist Neapolitaner. Natürlich fällt er nicht auf, das heißt aber nicht, daß er nicht giftig wie eine Viper ist.« Die Gehässigkeit, mit der Lele das sagte, machte Brunetti neugierig auf die Art seiner damaligen Geschäfte mit Murino.
»Hat sonst noch jemand etwas über Semenzato gesagt?«
Lele schnaubte angewidert. »Du weißt doch, wie es ist, wenn einer stirbt. Niemand will mit der Wahrheit heraus.«
»Ja, das hat mir heute morgen schon mal jemand gesagt.«
»Und was noch?« fragte Lele, offenbar wirklich neugierig.
»Daß ich ein paar Wochen warten soll, dann würden die Leute wieder anfangen, die Wahrheit zu sagen.«
Lele lachte so laut, daß Brunetti den Hörer vom Ohr weghalten mußte, bis er aufhörte. Als Lele wieder sprechen konnte, sagte er: »Wie wahr, wie wahr. Aber ich glaube nicht, daß es so lange dauert.«
»Willst du damit sagen, daß es mehr über ihn zu erzählen gibt?«
»Nein. Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, Guido, aber ein paar Leute schienen nicht sonderlich überrascht, daß er auf diese Weise umgekommen ist.« Als Brunetti nicht gleich nachfragte, wie das zu verstehen sei, fügte Lele hinzu: »Anscheinend hatte er Verbindung zu Leuten aus dem Süden.«
»Interessieren die sich jetzt auch für Kunst?« fragte Brunetti.
»Ja, Drogen und Prostitution reichen offenbar nicht mehr aus.«
»Dann sollten wir von jetzt an wohl die Wachen in den Museen verdoppeln.«
»Guido, was glaubst du, von wem die ihre Bilder kaufen?«
War das eine weitere Konsequenz der Durchlässigkeit nach oben? dachte Brunetti. Daß die Mafia jetzt Sotheby's Konkurrenz machte? »Lele, wie vertrauenswürdig sind die Leute, mit denen du gesprochen hast?«
»Du kannst getrost glauben, was sie sagen, Guido.«
»Danke, Lele. Wenn du noch mehr über Semenzato hörst, laß es mich bitte wissen.«
»Klar. Und, Guido, wenn diese Herren aus dem Süden da ihre Finger drin haben, solltest du besser sehr vorsichtig sein, ja?« Es war ein Zeichen für die Macht, die sie hier im Norden bereits gewonnen hatte, daß die Leute schon Hemmungen hatten, das Wort Mafia auszusprechen.
»Natürlich, Lele, und vielen Dank noch mal.«
»Ich meine es ernst«, sagte Lele, bevor er auflegte.
Brunetti legte ebenfalls auf und ging fast mechanisch zum Fenster, um abermals etwas kalte Luft hereinzulassen. Die Arbeiten an der Fassade von San Lorenzo gegenüber waren für den Winter eingestellt, das Gerüst stand leer. Ein großes Stück von der Plastikumhüllung hatte sich losgerissen, und sogar auf diese Entfernung hörte er es zornig im Wind knattern. Über der Kirche zogen von Süden dunkle Wolken heran, die sicher bis zum Abend weitere Regenfälle bringen würden.
Er sah auf die Uhr. Vor dem Mittagessen war keine Zeit mehr, Signor Murino einen Besuch abzustatten, aber er beschloß, am Nachmittag dort vorbeizugehen und zu sehen, wie Murino reagierte, wenn ein Commissario der Polizei in seinem Laden aufkreuzte und sich vorstellte. Die Mafia. Kunstdiebstähle. Brunetti wußte, daß über die Hälfte aller Museen des Landes mehr oder weniger dauernd geschlossen waren, aber er hatte noch nie richtig darüber nachgedacht, was das im Hinblick auf kleine oder große Diebstähle bedeutete, oder Unterschiebungen wie im Fall der China-Ausstellung. Das Wachpersonal wurde schlecht bezahlt, doch dessen mächtige Gewerkschaften verwehrten es Ehrenamtlichen, als Wächter in Museen zu arbeiten. Er erinnerte sich, daß vor Jahren einmal die Rede davon gewesen war, junge Männer, die sich für zwei Jahre Ersatzdienst anstelle der anderthalb Jahre
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