Brunetti 05 - Acqua alta
bespannte Boxen, die alle zur Mitte des Raumes hin ausgerichtet waren. Und dort lag auf einer mit Kissen bedeckten Chaiselongue aus hellbraunem Leder ein Mann. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich einem kleinen, quadratischen Heftchen in seiner Hand, und er gab durch nichts zu erkennen, daß er Brunettis Eintreten bemerkt hatte. Brunetti blieb an der Tür stehen und beobachtete den Mann. Und er lauschte der Musik.
Der Sopran war vollkommen rein, ein Klang, der im Herzen erzeugt und dort erwärmt wurde, bis er mit der scheinbaren Mühelosigkeit herauskam, die nur die größten Sänger und auch diese nur mit dem größten Können erreichten. Die Stimme verharrte auf einem Ton, löste sich von ihm, schwoll an, flirtete mit einem Instrument, das Brunetti jetzt als Cembalo erkannte, und ruhte kurz aus, während die Streicher mit dem Cembalo Zwiesprache hielten. Dann kehrte die Stimme zurück, als wäre sie die ganze Zeit dagewesen, und nahm die Streicher mit nach oben, immer höher hinauf. Hier und da konnte Brunetti einzelne Wörter und Sätze verstehen, »disprezzo«, »perchè«, »per pietade«, »fugge il mio bene«, die alle von Liebe, Sehnsucht und Verlust sprachen. Also Oper, wenn er auch keine Ahnung hatte, welche.
Der Mann auf der Chaiselongue war etwa Ende Fünfzig und trug um die Taille den Beweis für gutes Essen und angenehmes Leben. Das Beherrschende in seinem Gesicht war die Nase - groß und fleischig, wie sie Brunetti auf dem Polizeifoto des mutmaßlichen Vergewaltigers, seines Sohnes, gesehen hatte -, auf der eine Halbbrille zum Lesen saß. Seine Augen waren groß, klar und so dunkel, daß sie fast schwarz wirkten. Er war glattrasiert, hatte aber einen so starken Bartwuchs, daß man trotz der frühen Nachmittagsstunde schon dunkle Schatten auf seinen Wangen sah.
Die Musik erstarb in einem Diminuendo, das unter die Haut ging, und erst in der Stille merkte Brunetti, wie perfekt die Tonqualität gewesen war, so perfekt, daß sie sogar über die Lautstärke hinweggetäuscht hatte.
Der Mann ließ sich matt zurücksinken, und die Hand, die das Libretto gehalten hatte, sank neben der Chaiselongue auf den Boden. Er nahm die Brille ab und schloß die Augen, den Kopf zurückgelegt, den ganzen Körper entspannt. Obwohl er Brunettis Hiersein in keiner Weise zur Kenntnis genommen hatte, zweifelte dieser nicht eine Sekunde daran, daß der Mann sich seiner Anwesenheit im Zimmer sehr wohl bewußt war; mehr noch, er hatte das Gefühl, daß dieses Schauspiel ästhetischer Verzückung eigens zu seiner Erbauung inszeniert wurde.
Vornehm, ganz so, wie seine Schwiegermutter nach einer Arie applaudierte, die ihr nicht gefallen hatte, aber angeblich sehr gut gesungen worden war, schlug Brunetti seine Fingerspitzen ein paarmal leicht zusammen.
Wie aus Sphären zurückgeholt, die gewöhnliche Sterbliche nicht zu betreten wagten, öffnete der Mann auf der Chaiselongue die Augen, schüttelte in gespieltem Erstaunen den Kopf und drehte sich nach der Quelle dieses lauwarmen Beifalls um.
»Hat Ihnen die Stimme nicht gefallen?« fragte La Capra ehrlich überrascht.
»O doch, die Stimme hat mir sehr gut gefallen«, antwortete Brunetti, dann fügte er hinzu: »Nur die Darbietung erschien mir ein bißchen gezwungen.«
Falls La Capra das Fehlen eines Possessivpronomens bemerkt hatte, geruhte er es zu ignorieren. Er hob das Libretto auf und schwenkte es durch die Luft. »Das war die beste Sopranistin unserer Zeit, die einzige große Sängerin«, sagte er und schwenkte, um dem Nachdruck zu verleihen, noch einmal das kleine Heftchen.
»Signora Petrelli?« fragte Brunetti.
Der Mann verzog den Mund, als hätte er in etwas Unerfreuliches gebissen. »Die Petrelli, und Händel?« fragte er mit müdem Erstaunen. »Die kann doch nur Verdi und Puccini singen.« Er sprach die Namen so aus, wie eine Nonne »Sex« und »Leidenschaft« über die Lippen bringen würde.
Brunetti wollte ihn schon belehren, daß Flavia auch Mozart sang, fragte jedoch statt dessen nur: »Signor La Capra?«
Beim Klang seines Namens erhob sich der Mann, aus seinen ästhetischen Erläuterungen herausgerissen und an seine Gastgeberpflichten erinnert. Er ließ Libretto und Brille auf die Chaiselongue fallen und kam mit ausgestreckter Hand auf Brunetti zu. »Ja. Und mit wem habe ich die Ehre?«
Brunetti ergriff die Hand und erwiderte das sehr förmliche Lächeln. »Commissario Guido Brunetti.«
»Commissario?« Man hätte glauben können, La Capra habe dieses
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