Brunetti 05 - Acqua alta
La Capra etwas mit Semenzato zu tun hatte, möglicherweise sogar mit dessen Tod. Aber das waren bisher alles nur Indizien; vor Gericht hätten sie nicht den geringsten Wert.
Es klopfte. Ein uniformierter Polizist öffnete die Tür und wich zur Seite, um Flavia Petrelli eintreten zu lassen. Als sie an ihm vorbeiging, sah Brunetti die Hand des Mannes zu einem zackigen Salut hochschnellen, bevor er die Tür wieder zumachte. Brunetti mußte nicht eine Sekunde überlegen, wem diese Ehrenbezeugung gegolten hatte.
Sie trug einen dunkelbraunen, pelzgefütterten Regenmantel. Die frische Abendluft hatte ihr Gesicht gerötet, das auch heute wieder ungeschminkt war. Rasch kam sie durchs Zimmer geschritten und ergriff seine ausgestreckte Hand. »Hier arbeitest du also«, sagte sie.
Er ging um seinen Schreibtisch herum und nahm ihr den Mantel ab, der in der Hitze des Zimmers überflüssig war. Während sie sich umsah, hängte er ihn hinter der Tür auf einen Bügel. Dabei merkte er, daß der Mantel naß war, sah wieder zu ihr und stellte fest, daß auch ihr Haar naß war. »Hast du keinen Schirm?« fragte er.
Sie griff sich unwillkürlich ans Haar und zog überrascht die Hand zurück. »Nein, es hat nicht geregnet, als ich losgegangen bin.«
»Wann war das?« fragte er, während er zu ihr zurückging.
»Nach dem Mittagessen. Irgendwann nach zwei.«
Er zog einen zweiten Stuhl neben den, der vor seinem Schreibtisch stand, und wartete, bis sie Platz genommen hatte, bevor er sich ihr gegenübersetzte. Obwohl er sie erst vor wenigen Stunden gesehen hatte, war Brunetti verblüfft über ihr verändertes Aussehen. Ruhig und entspannt hatte sie heute vormittag gewirkt, und entschlossen, Brett mit ihm gemeinsam klarzumachen, daß sie an ihre Sicherheit denken müsse. Jetzt erschien sie ihm starr und nervös, und ihre Anspannung zeigte sich in den Linien um ihren Mund, die heute morgen bestimmt noch nicht dagewesen waren.
»Was macht Brett?« fragte er.
Sie seufzte und schwenkte resigniert die Hand. »Manchmal ist es, wie wenn ich mit meinen Kindern rede. Sie stimmt allem zu, was ich sage, gibt mir in allem recht und tut dann doch, was sie will.«
»Will sie hierbleiben?« fragte Brunetti.
»Ja.«
»Wann reist du ab?«
»Morgen. Mit einer Abendmaschine, die um neun ankommt. Dann habe ich noch Zeit, die Wohnung herzurichten, und kann am nächsten Morgen die Kinder vom Flughafen abholen.«
»Sagt sie, warum sie nicht mitwill?«
Flavia zuckte die Achseln, als wären die Wahrheit und das, was Brett sagte, zwei grundverschiedene Dinge. »Sie sagt, sie läßt sich nicht aus ihrer eigenen Wohnung verjagen, sie rennt nicht weg und versteckt sich bei mir.«
»Ist das nicht der wahre Grund?«
»Wer weiß schon, was ihr wahrer Grund ist?« fragte sie zurück, und es schwang Ärger mit. »Für Brett reicht es, daß sie etwas will oder nicht will. Sie braucht keine Gründe oder Entschuldigungen. Sie tut einfach, was sie will.« Brunetti entging nicht, daß nur ein Mensch mit ebensolchem Eigenwillen dies so ungeheuerlich finden konnte.
Er war versucht, Flavia zu fragen, warum sie zu ihm gekommen war, aber er versagte es sich und fragte statt dessen: »Könnte man sie irgendwie doch noch dazu bringen mitzugehen?«
»Du kennst sie anscheinend nicht besonders gut«, antwortete Flavia trocken, aber dann lächelte sie. »Nein, ich glaube nicht. Wahrscheinlich wäre es einfacher, wenn jemand ihr nahelegte, nicht mitzugehen; dann sähe sie sich vielleicht dazu gezwungen.« Sie schüttelte den Kopf und wiederholte: »Genau wie meine Kinder.«
»Hm«, meinte Brunetti nachdenklich, »vielleicht könnte ich ja doch mal mit ihr reden.«
»Glaubst du, das würde etwas nützen?«
Jetzt war das Achselzucken an ihm. »Keine Ahnung. Bei meinen Kindern nützt es meist nicht viel.«
Sie sah überrascht auf. »Ich wußte gar nicht, daß du Kinder hast.«
»Das ist für einen Mann meines Alters doch ziemlich normal, oder?«
»Ja, wahrscheinlich«, antwortete sie, und er sah sie ihre nächsten Worte abwägen. »Ich kenne dich eben nur als Polizisten, fast als wärst du gar kein richtiger Mensch.« Bevor er etwas sagen konnte, fügte sie rasch hinzu: »Ja, ich weiß, und du kennst mich nur als Sängerin.«
»Eigentlich ja nicht.«
»Wie meinst du das? Als wir uns kennenlernten, habe ich doch gerade gesungen.«
»Aber die Vorstellung war schon vorbei. Und seitdem habe ich dich nur auf CDs gehört. Das ist wohl leider nicht dasselbe.«
Sie sah ihn
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