Brunetti 05 - Acqua alta
prüfend an, blickte auf ihren Schoß, dann wieder zu ihm. »Wenn ich dir Karten für die Scala schenken würde, kommst du dann?«
»Ja. Sehr gern.«
Ihr Lächeln war offen. »Und wen würdest du mitbringen?«
»Meine Frau«, antwortete er.
»Ah«, sagte sie. Wie vielsagend doch eine einzige Silbe klingen konnte. Ihr Lächeln verflog für einen winzigen Moment, und als es wiederkehrte, war es noch ebenso freundlich, nur eine Spur weniger herzlich.
Er wiederholte seine Frage. »Möchtest du, daß ich mit ihr rede?«
»Ja. Sie hat großes Zutrauen zu dir, vielleicht hört sie ja auf dich. Jemand muß ihr klarmachen, daß sie Venedig verlassen soll. Ich schaffe es nicht.«
Ihr dringlicher Ton beunruhigte ihn. »Ich glaube nicht, daß es wirklich so gefährlich ist, wenn sie hierbleibt«, sagte er. »Ihre Wohnung ist sicher, und sie ist vernünftig genug, niemanden hereinzulassen. Sie ist also wirklich kaum in Gefahr.«
»Ja«, stimmte Flavia ihm zu, aber so langgezogen, daß man deutlich hörte, wie wenig überzeugt sie war. Und als wäre sie von irgendwo weither zurückgekommen und fände sich ganz plötzlich hier wieder, blickte sie sich im Zimmer um und fragte, wobei sie sich ihren Pulloverkragen vom Hals wegzog: »Mußt du noch lange hierbleiben?«
»Nein, ich habe jetzt Schluß. Wenn du gehen willst, kann ich mitkommen und sehen, ob sie auf mich hört.«
Sie erhob sich und trat ans Fenster, von wo sie auf die eingerüstete Fassade von San Lorenzo hinüberschaute, dann hinunter auf den Kanal vor dem Gebäude. »Es ist schön, aber ich weiß nicht, wie ihr das aushaltet.« Meinte sie die Ehe? »Ich halte es eine Woche aus, dann fange ich an, mich eingeengt zu fühlen.« Treue? Sie drehte sich um und sah ihn an. »Aber trotz aller Nachteile ist es immer noch die schönste Stadt der Welt, nicht?«
»Ja«, antwortete er schlicht und hielt ihr den Mantel.
Brunetti nahm zwei Schirme aus dem Schrank und gab beim Hinausgehen einen Flavia. Die beiden Posten am Eingang zur Questura, die es normalerweise dabei bewenden ließen, Brunetti mit einem lakonischen buona sera zu verabschieden, standen stramm und salutierten zackig. Draußen goß es wie aus Kübeln, und das Wasser hatte das Kanalbett verlassen und begann den Gehweg zu überspülen. Brunetti hatte noch schnell seine Gummistiefel angezogen, aber Flavia trug ein Paar flache Lederschuhe, die schon durchnäßt waren.
Er hakte sie unter und wandte sich nach links. Windböen peitschten ihnen immer wieder den Regen ins Gesicht, nur um gleich darauf zu drehen und sie von hinten zu traktieren. Nur wenige Leute waren unterwegs, alle in Stiefeln und Regenmänteln, offensichtlich Venezianer, die nur außer Haus waren, weil sie es mußten. Er mied diejenigen Gassen, in denen wahrscheinlich schon das Wasser stand, und nahm den Weg über die Barbaria delle Tole, die zu der etwas höher gelegenen Gegend beim Krankenhaus führte. Eine Brücke davor kamen sie zu einer tiefer gelegenen Stelle, wo das schlickgraue Wasser knöchelhoch stand. Brunetti blieb stehen, um zu überlegen, wie er Flavia da hindurchbringen sollte, aber sie ließ ihn los und ging einfach weiter, ohne sich um das kalte Wasser zu kümmern, das er in ihren Schuhen quatschen hörte.
Wind und Regen trieben sie über den Campo SS. Giovanni e Paolo. An einer Ecke stand, unter der wild flatternden Markise einer Bar, eine Nonne und umklammerte hilflos ihren umgeklappten Regenschirm. Der Campo selbst schien geschrumpft zu sein, der hintere Teil vom steigenden Wasser verschlungen, das den Kanal in einen kleinen, sich ständig weitenden See verwandelt hatte.
Fast schon im Laufschritt eilten sie über den Campo und dann platschend auf die Brücke zu, die zur Calle della Testa und Bretts Wohnung führte. Vom höchsten Punkt der Brücke sahen sie, daß vor ihnen das Wasser knöchelhoch stand, aber keiner der beiden hielt inne. Als sie am Fuß der Brücke ins Wasser traten, wechselte Brunetti seinen Schirm in die linke Hand, um mit der rechten Flavias Arm zu nehmen. Keinen Moment zu früh, denn sie stolperte, fiel nach vorn und wäre ins Wasser gestürzt, wenn er sie nicht an sich gezogen hätte.
»Porco Giuda!« rief sie, während sie sich neben ihm wieder hochrappelte. »Mein Schuh. Er ist weg.« Beide starrten in das dunkle Wasser, um nach dem verlorenen Schuh zu suchen, aber es war nichts zu sehen. Flavia tastete mit den Zehen im Wasser herum. Nichts. Der Regen prasselte herunter.
»Hier«, sagte Brunetti
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