Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Brunetti, der Vianellos Gedankensprüngen nicht gefolgt war. »Er meint, er besitzt diese Sachen, diese albernen kleinen Döschen.«
»Ich dachte, die hätten Ihnen gefallen.«
»Guter Gott, nein; ich finde sie abscheulich. Mein Onkel hatte Unmengen davon, und immer wenn wir zu ihm kamen, mußte ich sie mir ansehen. Er war auch so einer, der sich Sachen über Sachen zulegte und glaubte, sie gehörten ihm.«
»Gehörten sie ihm denn nicht?« fragte Brunetti und blieb an der Ecke stehen, um besser zu hören, was Vianello sagte.
»Natürlich gehörten sie ihm«, sagte Vianello, der jetzt vor Brunetti stand. »Das heißt, er hat sie bezahlt, hatte die Quittungen und konnte damit machen, was er wollte. Aber wir besitzen doch nie etwas wirklich, oder?« meinte er und sah Brunetti voll ins Gesicht.
»Ich weiß nicht genau, was Sie meinen, Vianello.«
»Denken Sie mal nach, Commissario. Wir kaufen Dinge. Wir ziehen sie an oder hängen sie an die Wand oder betrachten sie, aber jeder, der will, kann sie uns wegnehmen. Oder sie kaputtmachen.« Vianello schüttelte ärgerlich den Kopf, weil es ihm so schwerfiel, einen aus seiner Sicht doch recht einfachen Gedanken zu erklären. »Denken Sie an da Pré. Wenn er schon lange tot ist, wird ein anderer diese albernen Döschen besitzen, und danach wieder ein anderer, genau wie ein anderer sie auch vor ihm besessen hat. Aber daran denkt einfach niemand: daß Dinge uns überleben und weiterexistieren. Es ist so dumm, zu glauben, sie gehörten einem. Und es ist Sünde, daß sie einem so wichtig sind.«
Brunetti wußte, daß der Sergente ebenso gottlos und unehrerbietig war wie er selbst, wußte, daß seine einzige Religion die Familie und die Heiligkeit der Blutsbande war, weshalb er es merkwürdig fand, ihn von Sünde reden zu hören.
»Und wie konnte er die eigene Schwester fünf Jahre lang in diesem Heim lassen und sie nur einmal im Monat besuchen?« fragte Vianello, als glaubte er im Ernst, daß es darauf eine Antwort gäbe.
Brunettis Stimme war nichts anzuhören, als er erwiderte: »Ich denke mir, daß dieses Heim gar nicht so schlecht ist«, aber es klang so kühl, daß der Sergente sofort an Brunettis Mutter dachte, die auch in einem Heim war.
»So hatte ich das nicht gemeint, Commissario«, beeilte sich Vianello zu erklären. »Ich meine solche Heime überhaupt.« Und als er merkte, wie wenig besser das klang, fuhr er fort: »Ich meine, sie dann nicht öfter zu besuchen, sie dort einfach sich selbst zu überlassen.«
»Gewöhnlich ist dort viel Personal um sie herum«, lautete Brunettis Antwort, während er sich wieder in Bewegung setzte und am Campo San Vio links abbog.
»Aber Personal ist nicht Familie«, beharrte Vianello, der unerschütterlich daran glaubte, daß familiäre Zuwendung von größerem therapeutischem Nutzen war als alle Dienste, die man von Pflegekräften »kaufen« konnte. Aus Brunettis Sicht konnte der Sergente durchaus recht haben, aber er mochte dieses Thema nicht gerne weiterverfolgen, nicht jetzt und auch nicht in der näheren Zukunft.
»Wohin als nächstes?« fragte Vianello, womit er seine Bereitschaft zeigte, das Thema zu wechseln und sie beide, wenigstens vorübergehend, von Fragen abzulenken, die doch allenfalls nur weh taten.
»Es müßte irgendwo hier oben sein«, sagte Brunetti und bog in eine schmale calle ein, die von dem Kanal, an dem sie entlanggingen, wegführte.
Selbst wenn der Erbe des Conte Egidio Crivoni schon wartend hinter der Tür gestanden hätte, wäre die Stimme, die ihnen auf ihr Klingeln antwortete, nicht schneller über die Sprechanlage gekommen. Ebensoschnell sprang die schwere Tür auf, nachdem Brunetti erklärt hatte, daß sie Fragen zum Nachlaß von Conte Crivoni hätten. Sie stiegen zwei Treppen hinauf, dann noch zwei, wobei Brunetti auffiel, daß von jedem Treppenabsatz nur eine Tür abging. Das deutete darauf hin, daß jede Wohnung ein ganzes Stockwerk einnahm, was wiederum auf die Wohlhabenheit der Bewohner schließen ließ.
Als Brunetti gerade den Fuß auf den obersten Treppenabsatz setzte, öffnete ein schwarzgekleideter Majordomus die Tür. Das heißt, Brunetti schloß aus dem ernsten Nicken und der feierlich-distanzierten Haltung des Mannes, daß er ein Dienstbote war, und dieser Glaube bestätigte sich, als er sich erbot, Brunettis Mantel zu nehmen, und sagte, la contessa werde sie in ihrem Arbeitszimmer empfangen. Darauf verschwand der Mann kurz hinter einer Tür, kam aber sofort wieder, ohne
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