Brunetti 07 - Nobiltà
und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch.
Nachdem Elettra gegangen war, schlug er die Akte auf und begann zu lesen. Er wußte nur noch, daß die Sache im Herbst passiert war; jetzt las er, daß es am 28. September kurz vor Mitternacht gewesen war. Robertos Freundin hatte ihren Wagen (es folgten Marke, Baujahr und Kennzeichen) vor dem Tor der Lorenzoni-Villa angehalten, die Scheibe heruntergekurbelt und den Nummerncode in die digitale Schließanlage eingetippt. Als das Tor nicht aufging, war Roberte ausgestiegen, um nachzusehen, woran das lag. Ein großer, schwerer Stein hatte innen vor dein Tor gelegen und das öffnen verhindert.
Roberto hatte, wie das Mädchen im Vernehmungsprotokoll angab, den Stein fortzuwälzen versucht, und während er gebückt dastand, waren neben ihm zwei Männer aus dem Gebüsch gesprungen. Einer hatte dem Jungen eine Pistole an den Kopf gehalten, während der andere sich an ihr offenes Wagenfenster stellte und seine Waffe auf sie richtete. Beide hatten Ski-Masken getragen.
Sie sagte, sie habe zuerst an einen Raubüberfall gedacht und habe die Hände in den Schoß gelegt, um ihren Smaragdring abzustreifen und ihn auf den Wagenboden fallenzulassen, wo er vor den Dieben sicher gewesen wäre. Da das Autoradio lief, habe sie nicht verstehen können, Was die Männer sagten, aber daß es kein Raubüberfall gewesen sei, habe sie gemerkt, als sie sah, wie Roberto sich umdrehte und vor dem ersten Mann her in die Büsche verschwand. Der zweite Mann sei weiter an ihrem Fenster stehengeblieben, immer die Waffe auf sie gerichtet, habe aber nicht mit ihr zu reden versucht und sich nach einer kleinen Weile rückwärts in die Büsche verzogen.
Sie hatte als erstes ihre Autotür verriegelt, dann zwischen den Sitzen nach ihrem telefonino gegriffen, aber die Batterien waren leer gewesen. Sie hatte gewartet, ob Roberto zurückkäme. Als er nicht kam - wie lange sie gewartet hatte, wüßte sie nicht mehr -, hatte sie den Wagen gewendet und war in Richtung Treviso gefahren, bis sie an der Straße eine Telefonzelle sah. Sie hatte 113 gewählt und den Vorfall gemeldet. Selbst da sei ihr noch nicht der Gedanke gekommen, daß es sich um eine Entführung handeln könnte; sie habe sogar gedacht, es sei vielleicht ein Streich.
Brunetti las den Rest des Protokolls. Er wollte wissen, ob der vernehmende Beamte nachgefragt hatte, wie sie daraufkomme, daß es ein Streich sein könne, aber die Frage kam nicht. Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und suchte nach einem Blatt Papier; als er keines fand, fischte er aus seinem Papierkorb einen Umschlag, drehte ihn um und machte sich auf der Rückseite eine Notiz; dann las er weiter.
Die Polizei hatte sich mit der Familie in Verbindung gesetzt, ohne mehr zu wissen, als daß der Junge unter Androhung von Waffengewalt mitgenommen worden war. Conte Ludovico traf um vier Uhr morgens mit seinem Neffen Maurizio, der ihn gefahren hatte, in der Villa ein. Die Polizei behandelte den Fall inzwischen als wahrscheinliche Entführung, und Maßnahmen waren ergriffen worden, um das Vermögen der Familie zu sperren. Das ging allerdings nur bei dem Inlandsvermögen, und die Familie hatte immer noch Zugang zu ihren Konten bei ausländischen Banken. In diesem Wissen versuchte der Commissario der Polizei in Treviso, der die Ermittlungen leitete, dem Conte klarzumachen, daß es sinnlos sei, auf Lösegeldforderungen einzugehen.
Nur indem man den Entführern auf keinen Fall gebe, was sie verlangten, könne man sie von künftigen Verbrechen abhalten. In den meisten Fällen, so erklärte er dem Conte, werde die entführte Person nicht freigelassen, oft sogar nie gefunden. Conte Ludovico blieb dabei, daß es keinen Grund gebe, an eine Entführung zu denken. Es könne ein Raubüberfall gewesen sein, ein Streich, eine Verwechslung. Brunetti kannte dieses Bedürfnis, das Schreckliche nicht wahrhaben zu wollen, und hatte schon oft genug mit Menschen zu tun gehabt, die einfach nicht glauben wollten, daß ein Familienmitglied in Gefahr oder vielleicht sogar tot war. Daß der Conte darauf beharrte, es sei keine Entführung, könne keine sein, war also vollkommen verständlich.
Aber Brunetti wunderte sich erneut über die Mutmaßung, daß es sich um einen Streich handeln könne. Was war dieser Roberto für ein junger Mann, wenn die Menschen; die ihn am besten kannten, so etwas dachten?
Daß es kein Streich war, erwies sich zwei Tage später, als die erste Lösegeldforderung kam. Sie kam per
Weitere Kostenlose Bücher