Brunetti 07 - Nobiltà
noch keine zwanzig und hatte, wie es sich anhörte, ein ziemlich kleines Kind. Terminkalender?
»Wenn Sie um Viertel vor zwölf hier sind, können wir uns unterhalten. Allerdings habe ich eine Verabredung zum Mittagessen.«
»Das passt mir ausgezeichnet, Signora. Also bis dann«, sagte er rasch und legte auf, bevor sie es sich anders überlegen oder noch einmal in ihrem Terminkalender nachsehen konnte.
Er rief Paola an, um ihr zu sagen, dass er nicht zum Essen nach Hause käme. Wie gewöhnlich nahm sie es so gelassen hin, dass Brunetti einen Moment überlegte, ob sie vielleicht schön andere Pläne hatte. »Was wirst du tun?« erkundigte er sich.
»Wie?« fragte sie. »Ach so, lesen.«
»Und die Kinder? Was ist mit ihnen?«
»Ich werde sie schon abfüttern, Guido, keine Sorge. Du weißt doch, Wie sie ihr Essen immer runterschlingen, wenn wir nicht beide da sind und einen zivilisierenden Einfluss auf sie ausüben. Ich werde also viel Zeit für mich haben.«
»Und du, isst du nichts?« fragte er.
»Guido, du hast nichts als Essen im Kopf, ist dir das eigentlich klar?«
»Nur weil du mich ständig daran erinnerst, mein Schatz« versetzte er lachend. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass sie nichts als Lesen im Kopf habe, aber das würde Paola lediglich als Kompliment auffassen, und so sagte er nur noch, er werde dann zum Abendessen wieder da sein, und legte auf.
Er verließ die Questura, ohne jemandem zu sagen, wohin er ging, und nahm sicherheitshalber die Hintertreppe, um nicht womöglich noch Vice-Questore Patta in die Arme zu laufen, den man jetzt, da es schon nach elf war, mit Sicherheit in seinem Dienstzimmer vermuten durfte.
Brunetti hatte angesichts der morgendlichen Kühle einen wollenen Anzug und seinen Übergangsmantel an und war jetzt überrascht, wie warm es draußen geworden war. Er ging am Kanal entlang und wollte gerade nach links in Richtung Campo di Santa Maria Formosa und Rialto abbiegen, als er plötzlich stehenblieb, den Mantel auszog und umkehrte.
Die Wachen in der Questura erkannten ihn und drückten lauf den Knopf, der die großen Glastüren öffnete. Er ging rechts in das kleine Büro und sah Pucetti am Schreibtisch sitzen, den Telefonhörer am Ohr. Als Pucetti seinen Vorgesetzten sah, murmelte er noch etwas ins Telefon, legte auf und erhob sich rasch.
»Pucetti«, sagte Brunetti, wobei er dem jungen Mann mit einer Geste bedeutete, er solle sich wieder hinsetzen, »ich möchte diesen Mantel für ein paar Stunden hier deponieren. Ich hole ihn ab, wenn ich zurückkomme.«
Anstatt sich wieder hinzusetzen, kam Pucetti auf Brunetti zu und nahm ihm den Mantel ab. »Ich bringe ihn nach oben in Ihr Zimmer, Commissario, wenn es recht ist.«
»Nein, nein, nicht nötig. Hier liegt er gut.«
»Es wäre mir lieber, Dottore. Hier ist in den letzten Wochen so einiges weggekommen.«
»Was?« fragte Brunetti, aufrichtig erstaunt. »Aus der Wachstube der Questura?«
»Das sind die da, Commissario«, sagte Pucetti und nickte in Richtung der endlosen Schlange vor dem Ufficio Stranieri, Hunderte von Menschen schienen dort zu warten, um die Formulare auszufüllen, die ihren Aufenthalt in der Stadt legalisierten. »Da kommen so viele Albaner und Slawen, und Sie wissen doch, wie diebisch die sind.«
Hätte Pucetti das zu Paola gesagt, sie wäre ihm augenblicklich ins Gesicht gesprungen und hätte ihn einen Rassisten und Fanatiker geheißen. Es gebe nicht die Albaner und die Slawen, hätte sie ihm erklärt. Aber da sie nicht hier war und Brunetti dazu neigte, sich Pucettis Vorurteil im Großen und Ganzen anzuschließen, bedankte er sich nur und ging.
7
Als Brunetti über den Campo di Santa Maria Formosa ging, fiel ihm etwas ein, was er letzten Herbst auf dem Campo di Santa Marina gesehen hatte, worauf er den Weg über den kleineren »campo nahm und sich dort gleich nach rechts wandte. Die Käfige hingen schon vor dem Schaufenster der Zoohandlung. Brunetti trat näher, um zu sehen, ob der merlo indiano noch da war. Ja, der da im obersten Käfig, der mit dem schwarzglänzenden Gefieder, der jetzt sein dunkles Auge auf ihn richtete.
Brunetti ging an den Käfig heran, beugte sich Vor und sagte: »Ciao.« Nichts. Unbeirrt wiederholte er: »Ciao«, wobei er das Wort schön auf zwei Silben ausdehnte. Der Vogel hüpfte nervös von der einen Stange auf die andere, drehte sich um und betrachtete ihn nun mit dem anderen Auge. Als Brunetti sich umsah, bemerkte er eine weißhaarige Frau, die in der Mitte
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