Brunetti 07 - Nobiltà
dann ich zu mamma.«
»Sei nicht albern, Sergio. So etwas kommt doch vor. Ich gehe, so lange du weg bist; du gehst, wenn du wieder da bist, und ich gehe dann am darauf folgenden Sonntag.
Das hast du für mich ja auch schon getan.«
»Ich möchte nur nicht, dass du denkst, ich wollte sie nicht besuchen, Guido.«
»Reden wir nicht mehr darüber, Sergio, ja?« antwortete Brunetti, den es selbst erstaunte, wie weh ihm der Gedanke an seine Mutter noch immer tat. Das ganze letzte Jahr hatte er sich mit einzigartiger Erfolglosigkeit einzureden versucht, dass seine Mutter, diese vor Vitalität sprühende Frau, die sie beide mit liebe und uneingeschränkter Hingabe aufgezogen hatte, sich nur an einen anderen Ort begeben hatte und dort, geistig rege und fröhlich wie eh und je, darauf wartete, dass die verwirrte Hülle ihres Leibes ihr nachfolgte, damit sie zusammen in den ewigen Frieden eingehen könnten.
»Ich bitte dich nicht gern, Guido«, wiederholte Sergio, und Brunetti musste wieder daran denken, wie gewissenhaft sein Bruder es immer vermieden hatte, seine Stellung als der Ältere und die damit einhergehende Autorität auszunutzen.
Brunetti überlegte, wie er ihrem Gespräch eine Wende geben könne, und fragte unvermittelt: »Was machen denn die Kinder, Sergio?«
Sergio musste laut lachen, als er merkte, wie sie in die alten Familiengewohnheiten verfielen: Er glaubte, immer alles rechtfertigen zu müssen, und sein jüngerer Bruder weigerte sich einfach, das nötig zu finden. »Marco hat seinen Militärdienst fast hinter sich; Ende des Monats kommt er für vier Tage nach Hause. Und Maria Luisa spricht nur noch Englisch, damit sie im Herbst gut vorbereitet ans Courtauld gehen kann. Ist das nicht verrückt, Guido, dass sie nach England muss, um Restauratorin zu werden?«
Paola, Brunettis Frau, lehrte Englisch an der Universität Ca'Foscari. Sein Bruder konnte ihm also kaum noch etwas über die Idiotie des italienischen Hochschulsystems sagen, was er nicht schon wusste.
»Ist ihr Englisch gut genug?« fragte er.
»Das will ich doch hoffen. Wenn nicht, schicke ich sie für den Sommer zu euch.«
»Und was sollen wir dann tun? Die ganze Zeit Englisch sprechen?«
»Ja.«
»Bedaure, Sergio, aber das tun wir nie, nur wenn die Kinder nicht mitbekommen sollen, worüber wir reden. Aber inzwischen haben beide in der Schule soviel gelernt, dass wir das auch schon nicht mehr können.«
»Versucht's mit Latein«, meinte Sergio lachend, »darin warst du doch immer gut.«
»Das ist leider sehr lange her«, antwortete Brunetti traurig.
Sergio, der schon immer eine Antenne mehr als andere gehabt hatte, spürte die Stimmung seines Bruders. »Ich rufe dich noch einmal an, bevor ich fahre, Guido.«
»Gut, stammi bene«, sagte Brunetti.
»Ciao«, antwortete Sergio und legte auf.
Brunetti hätte andere Leute schon oft einen Satz mit: »Wenn er nicht gewesen wäre...« anfangen hören und konnte dann nie umhin, Sergios Namen dafür einzusetzen. Als Brunetti - anerkanntermaßen schon immer der Gelehrte in der Familie - achtzehn gewesen war, hatte seinen Eltern das Geld nicht gereicht, um ihn auf die Universität zu schicken und noch länger zu warten, bis er etwas zum Einkommen der Familie beitrug. Obwohl seine ganze Sehnsucht so sehr auf ein Studium gerichtet war wie die seiner Freunde auf Frauen, beugte er sich dieser Entscheidung und sah sich nach einer Arbeit um. Da hatte Sergio, der sich gerade verlobt und seine erste Stelle als Techniker in einem medizinischen Labor angetreten hatte, sich bereit erklärt, mehr Geld zu Hause abzugeben, wenn sein jüngerer Bruder dann studieren konnte. Schon damals hatte Brunetti gewusst, dass er Rechtswissenschaft studieren wollte, und zwar weniger das zur Zeit angewandte Recht als vielmehr seine Geschichte und die Gründe, warum es sich zu dem entwickelt hatte, was es jetzt war. Da es in Venedig keine juristische Fakultät gab, musste er nach Padua gehen, und die Hin- und Herfahrerei erhöhte die Kosten, die Sergio bereitwillig übernahm. Sergios Heirat wurde um drei Jahre verschoben, in denen Brunetti sich schnell an die Spitze seines Jahrgangs emporarbeitete und schon etwas Geld zu verdienen anfing, indem er jüngere Studenten betreute.
Wenn Brunetti nicht studiert hätte, wäre er nicht Paola in der Bibliothek begegnet, und dann wäre er auch nicht Polizist geworden. Manchmal fragte er sich, ob er wohl derselbe Mensch geworden wäre, ob das, was er in sich selbst als das Entscheidende
Weitere Kostenlose Bücher