Brunetti 07 - Nobiltà
»Permesso« ignorierte sie.
»Wir können hier reingehen«, sagte sie über die Schulter, während sie ihm voraus nach links in einen großen Wohnraum ging. An den Wänden sah Brunetti gerahmte Stiche hängen, die Szenen von solcher Gewalttätigkeit darstellten, dass es sich nur um Goyas handeln konnte. Drei Fenster gingen auf einen Hof, wahrscheinlich den kleinen Innenhof, durch den er gekommen war; die gegenüberliegende Mauer war unangenehm nah.
Sie setzte sich mitten auf eine niedrige Couch und schlug die Beine übereinander, wobei sie mehr Oberschenkel zeigte, als Brunetti bei jungen Müttern zu sehen gewohnt war. Sie deutete auf einen Sessel ihr gegenüber und fragte: »Was wollen sie denn wissen?«
Brunetti versuchte zu erkennen, was in ihr vorging, wobei er wusste, dass er instinktiv Nervosität zu finden erwartete. Aber er stellte nur Unmut fest.
»Ich möchte gern von Ihnen wissen, wie lange Sie Roberto Lorenzoni gekannt haben.«
Sie strich sich mit dem Handrücken eine Haarlocke aus dem Gesicht, wobei ihr wahrscheinlich gar nicht bewusst war, wie ungehalten ihre Geste wirkte. »Das habe ich doch alles schon dem anderen Polizisten gesagt.«
»Ich weiß, Signora. Ich habe das Protokoll gelesen, aber ich möchte es gern mit Ihren eigenen Worten hören.«
»Ich will doch hoffen, dass in dem Protokoll meine eigenen Worte stehen«, versetzte sie schnippisch.
»Das ist sicher, auch so. Aber ich würde doch lieber noch einmal selbst hören, was Sie über ihn zu sagen haben. Vielleicht kann ich dann besser verstehen, was er für ein Mensch war.«
»Haben Sie denn die Leute gefunden, die ihn entführt haben?« fragte sie mit dem ersten Anzeichen echten Interesses, das sie seit seiner Ankunft verriet.
»Nein.«
Sie schien enttäuscht, sagte aber nichts.
»Wie lange kannten Sie ihn?«
»Ich bin ungefähr ein Jahr lang mit ihm ausgegangen. Bevor das passierte, meine ich.«
»Und was für ein Mensch war er?«
»Wie meinen Sie das, was er für ein Mensch war? Er war ein Schulkamerad. Wir hatten manches gemeinsam, hatten Spass an den gleichen Dingen. Er konnte mich zum Lachen bringen.«
»Haben Sie deswegen gedacht, es könnte sich bei der Entführung um einen Streich gehandelt haben?«
»Was soll ich gedacht haben?« fragte sie ernstlich verwirrt.
»So steht es im Vernehmungsprotokoll«, erklärte Brunetti. »Dass Sie zuerst dachten, es handle sich vielleicht um einen Streich. Als es passierte, meine ich.«
Sie blickte an Brunetti vorbei, als lauschte sie einer leisen Musik aus dem Nebenzimmer, die aber nur sie hörte. »Das habe ich gesagt?«
Brunetti nickte.
Nach einer langen Pause meinte sie: »Na ja, kann schon sein. Roberto hatte ein paar sehr merkwürdige Freunde.«
»Was für Freunde?«
»Ach, Studenten von der Universität eben.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, warum die so merkwürdig sein sollten«, sagte Brunetti.
»Also, von denen hat keiner gearbeitet, aber alle hatten reichlich Geld.« Als wäre ihr klar geworden, wie lahm das als Erklärung klang, fuhr sie fort: »Nein, das ist es nicht. Sie haben so merkwürdig geredet, zum Beispiel darüber, was sie alles im Leben oder mit ihrem Leben machen könnten. So etwas. Wie Studenten eben so reden.« Und als sie den Ausdruck höflicher Erwartung in Brunettis Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Außerdem interessierten sie sich sehr für das Thema Angst.«
»Angst?«
»Ja, sie lasen diese Horrorbücher und gingen immer in Filme, in denen Gewalt und dergleichen vorkam.« Brunetti nickte und murmelte etwas Unverbindliches. »Genau genommen war das einer der Gründe, warum ich schon so gut wie beschlossen hatte, mit Roberto Schluss zu machen. Aber dann passierte das, und ich brauchte es ihm nicht mehr zu sagen.« Hörte er da Erleichterung heraus?
Die Tür ging auf, und eine Frau mittleren Alters kam herein, auf dem Arm ein Baby, das schön den Mund zum Schreien geöffnet hatte. Als sie Brunetti sah, blieb die Frau stehen, und das Baby, das die Bewegung spürte, machte den Mund zu und wandte den Kopf nach der Ursache ihrer Überraschung.
Brunetti erhob sich.
»Das ist der Polizist, mamma«, sagte die junge Frau, ohne das Kind anzusehen. Dann fragte sie: »Wolltest du etwas?«
»Nein, nein, Francesca. Es ist nur Zeit zum Stillen.«
»Das muß eben noch etwas warten«, gab das Mädchen zurück, als befriedigte dieser Gedanke sie sehr. Sie sah Brunetti an, dann die Frau, die sie mamma nannte. »Falls du nicht willst, dass der
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