Brunetti 07 - Nobiltà
des campo vor dem Zeitungskiosk stehen geblieben war und sehr verwundert zu ihm herüberschaute. Er kümmerte sich nicht um sie und wandte sich wieder dem Vogel zu. »Ciao«, sagte er noch einmal.
Plötzlich kam Brunetti der Gedanke, dass es vielleicht doch ein anderer Vogel war; schließlich sahen alle mittelgroßen Beos ziemlich ähnlich aus. Er versuchte es noch einmal: »Ciao.« Schweigen: Enttäuscht wandte er sich ab und lächelte resigniert zu der Frau hinüber, die ihn noch immer anstarrte. Brunetti war keine zwei Schritte gegangen, als er seine eigene Stimme hinter sich »Ciao« rufen hörte, den letzten Vokal nach Vogelart in die Länge gezogen. Sofort drehte er um und ging zu dem Käfig zurück. »Come ti stai?« fragte er diesmal, wartete einen Augenblick und wiederholte dann die Frage. Plötzlich spürte er, mehr als er sah, dass jemand neben ihm stand, und erkannte die weißhaarige Frau. Er lächelte, und sie lächelte zurück. »Come ti stai?« fragte er den Vogel noch einmal, und vollkommen tongetreu kam es zurück: »Come ti stai?« Die Ähnlichkeit mit seiner eigenen Stimme war geradezu unheimlich.
»Was kann er noch sagen?« fragte die Frau.
»Ich weiß es nicht, Signora. Ich habe noch nie etwas anderes von ihm gehört.«
»Ist das nicht wunderbar?« fragte sie, und als er die schlichte Freude in ihrem Gesicht sah, schien es ihm, als wären Jahre von ihr abgefallen.
»Ja, wunderbar«, bestätigte er und ging, während sie vor dem Schaufenster stehenblieb und dem Vogel immer wieder »Ciao« vorsagte.
Brunetti setzte seinen Weg über den Campo SS. Apostoli und die Strada Nova bis San Marcuola fort, wo er das traghetto über den Canal Grande nahm. Das Wasser spiegelte so stark, dass er wünschte, er hätte seine Sonnenbrille dabei, aber wer hätte von einem dunstig-feuchten Frühlingsmorgen schon solchen Glanz für die Stadt erwartet?
Auf der anderen Seite wandte er sich nach rechts, dann wieder links und erneut nach rechts, dem inneren Stadtplan folgend, der sich ihm in Jahrzehnten eingeprägt hatte, wenn er durch diese Stadt ging, um Freunde zu besuchen, ein Mädchen nach Hause zu begleiten, irgendwo einen Kaffee zu trinken oder alle die vielen Dinge zu tun, die ein junger Mann eben tut, ohne groß über Weg oder Ziel nachzudenken. 'Bald erreichte er den Campo San Giovanni Decollato. So viel Brunetti wusste, hätte niemand sagen können, ob man in der Kirche nun den enthaupteten Körper oder den fehlenden Kopf des Heiligen verehrte. Für ihn war das auch kein großer Unterschied.
Der Salviati, den Robertos ehemalige Freundin geheiratet hatte, war der Sohn Fulvios, des Notars, demnach musste das Haus das dritte auf der linken Seite in der zweiten calle rechts sein.' So war es auch; die Nummer war dieselbe wie die im Telefonbuch, und hier wohnten drei Salviatis. An der untersten Klingel stand vor dem Namen ein E, weshalb Brunetti auf diese drückte, während er überlegte, ob sie wohl weiter nach oben ziehen würden, wenn ältere Familienmitglieder starben und die Wohnungen leer zurückließen.
Die Tür sprang auf, und er ging hinein. Vor ihm lag ein schmaler Durchgang, der über einen Innenhof zu einer Treppe führte. Bunte Tulpen säumten den Weg, und auf dem Rasen links davon begann eine tapfere Magnolie ihre Blüten zu entfalten.
Er ging die Stufen hinauf und hörte das Schloss aufspringen, als er die Tür erreichte. Drinnen führten weitere Stufen zu einem Treppenabsatz mit zwei Türen. Die linke Tür ging auf, und eine junge Frau trat heraus. »Sind Sie der Polizist?« fragte sie. »Ich habe Ihren Namen vergessen.«
»Brunetti«, sagte er, als er die letzten Stufen zu ihr hinaufging. Sie stand vor der Tür, ohne jeden Ausdruck in dem sonst eigentlich recht hübschen Gesicht. Wenn das Baby tatsächlich ihres und wirklich noch so klein war, wie es aus seinen Informationen hervorging, dann hatte sie sehr schnell ihre schlanke Figur zurückgewonnen, die sich unter einem engen roten Rock und einem noch engeren schwarzen Pullover abzeichnete. Ihr unbewegtes Gesicht war umgeben von einer Wolke aus lockigem dunklen Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Ihr Blick war überraschend uninteressiert.
Als er oben war, sagte er: »Vielen Dank für Ihre Bereitschaft, mit mir zu sprechen, Signora.«
Sie machte sich nicht die Mühe zu antworten oder sonst irgendwie zu erkennen zu geben, dass sie ihn gehört hatte, vielmehr drehte sie sich um und führte ihn in die Wohnung. Auch sein gemurmeltes:
Weitere Kostenlose Bücher