Brunetti 07 - Nobiltà
dann gleich noch ein paar Tage dageblieben?«
»Ja, manchmal«, antwortete Lorenzoni.
»War er auf der Universität?«
»Er war in der facolta di economia commerciale eingeschrieben.«
»Und wo?«.
»In Venedig, an der Ca' Foscari.« »Wie lange?«
»Drei Jahre.«
»Hat er irgendwelche Examina abgelegt?«
Falls Lorenzoni die Wahrheit kannte, kam sie ihm nicht über die Lippen. »Ich weiß es nicht.« Aber die letzte Frage hatte das Einvernehmen getrübt, das Brunetti durch seine Antwort auf Lorenzonis Eingeständnis der Angst hergestellt hatte.
»Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?« fragte der junge Mann.
»Ich möchte mir ein Bild von ihm machen«, antwortete Brunetti wahrheitsgemäß.
»Und was soll das noch für einen Sinn haben? Nach so langer Zeit?« :
Brunetti zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob es einen Sinn hat. Aber wenn ich die nächsten Monate meines Lebens mit ihm verbringen soll, will ich möglichst viel über ihn wissen.«
»Monate?« fragte Lorenzoni.
»Ja.«
»Heißt das, die Ermittlungen wegen der Entführung werden wiederaufgenommen?«
»Es geht nicht mehr nur um Entführung. Es geht um Mord.«
Lorenzoni zuckte bei dem Wort zusammen, sagte aber nichts.
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, was vielleicht wichtig sein könnte?«
Lorenzoni schüttelte den Kopf und wandte sich der Treppe zu, die zum Eingang der Villa hinaufführte.
»Ist Ihnen etwas an seinem Verhalten aufgefallen, bevor er entführt wurde?« Wieder schüttelte Lorenzoni den Kopf, aber dann blieb er stehen und drehte sich zu Brunetti um. »Ich glaube, er war krank.«
»Warum sagen Sie das?«
»Er war ständig müde und sagte, er fühle sich nicht wohl. Ich glaube, er hat auch etwas von Magenbeschwerden und Durchfall gesagt. Außerdem sah er aus, als hätte er abgenommen.«
»Hat er dazu noch mehr gesagt?«
»Nein, nein. Roberto und ich haben uns in den letzten Jahren nicht so besonders nahe gestanden.«
»Seit Sie anfingen, für die Firma zu arbeiten?«
Der Blick, mit dem Lorenzoni ihn daraufhin bedachte, war weder freundlich noch überrascht. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich fände es ganz normal, wenn er von Ihrer Anwesenheit in der Firma nicht begeistert gewesen wäre, schon gar nicht, wenn er den Eindruck hatte, dass Ihr Onkel etwas von Ihnen hielt oder Ihrem Urteil vertraute.« Brunetti erwartete eigentlich, dass Lorenzoni dazu etwas sagen würde, aber der junge Mann drehte sich nur unvermittelt schweigend um und ging die drei breiten Stufen zum Haus hinauf. Brunetti rief ihm nach: »Gibt es sonst noch jemanden, mit dem ich über ihn sprechen könnte?«
Oben angekommen, drehte Lorenzoni sich noch einmal um. »Nein. Keiner kannte ihn. Keiner kann Ihnen helfen.« Er wandte sich ab, ging ins Haus und machte die Tür hinter sich zu.
18
Da das Wochenende bevorstand, ließ Brunetti die Lorenzonis in Ruhe und beschäftigte sich erst am Montag wieder mit ihnen, als er zu Robertos Beerdigung ging, einer so feierlichen wie düsteren Zeremonie. Die Messe wurde in der Kirche San Salvatore gelesen, die am einen Ende des Campo San Bartolomeo und damit viel zu nah am Rialto lag, so dass sie den ganzen Tag, also auch während der Messe, von einem unablässigen Touristenstrom heimgesucht wurde.
Brunetti, der auf einer der hinteren Bänke saß, fühlte sich gestört von dem Kommen und Gehen und den geflüsterten Beratungen, wie man nun wohl am besten Tizians Verkündigung und das Grabmal der Caterina Corner fotografierte. Während einer Totenmesse? Man konnte ja vielleicht ganz leise sein und den Blitz abschalten.
Der Priester ignorierte das Getuschel und fuhr mit dem tausendjährigen Ritual fort. Er sprach von der vorübergehenden Natur unseres Erdendaseins, von der Trauer der Eltern und Angehörigen dieses Gotteskindes, dessen Leben auf Erden so jäh beendet worden war. Aber dann forderte er seine Zuhörer auf, an die Freuden zu denken, die den Gläubigen und Gerechten erwarteten, wenn er heimging zum himmlischen Vater, dem Quell aller Liebe. Nur einmal ließ sich der Priester kurz von seiner Pflicht ablenken! Im hinteren Teil der Kirche fiel unter lautem Gepolter ein Stuhl um, gefolgt von einem unterdrückten Ausruf in einer Sprache, die nicht Italienisch war.
Doch das Ritual schluckte auch diese Störung; der Priester und sein Ministrant gingen unter Gebeten langsam um den geschlossenen Sarg herum und besprengten ihn mit Weihwasser. Brunetti fragte sich, ob er hier der einzige war, der an
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