Brunetti 08 - In Sachen Signora Brunetti
Gewahrsam und wolle, daß Brunetti hinkomme und mit dem Mann rede. Als sie fragte, wieso er dazu die ganze Nacht fortbleiben müsse, erklärte er, der Mann könne erst spät vorgeführt werden und nach zehn gehe kein Zug mehr. Tatsächlich fuhr schon den ganzen Nachmittag im Veneto kein Zug mehr. Die Fluglotsen waren mittags in einen wilden Streik getreten und hatten den Flughafen lahmgelegt, so daß ankommende Maschinen nach Bologna oder Triest ausweichen mußten, und die Eisenbahnergewerkschaft hatte beschlossen, aus Sympathie mit den Forderungen der Lotsen ebenfalls zu streiken, worauf der gesamte Zugverkehr im Veneto zum Erliegen gekommen war.
»Dann nimm doch ein Auto.«
»Das tue ich ja, bis Padua. Mehr genehmigt Patta nicht.«
»Das heißt doch, er will nicht, daß du da hinfährst, oder?« fragte sie und sah ihn über die abgegessenen Teller hinweg an. Die Kinder waren schon in ihre Zimmer verschwunden, so daß sie offen reden konnten. »Oder weiß er gar nichts davon?«
»Das ist zum Teil der Grund«, sagte er. Er nahm sich einen Apfel aus dem Obstkorb und begann ihn zu schälen. »Gute Äpfel«, bemerkte er, nachdem er sich das erste Stück in den Mund gesteckt hatte.
»Weich mir nicht aus, Guido. Was ist der andere Grund?«
»Kann sein, daß ich ziemlich lange mit ihm reden muß. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.«
»Die haben also diesen Mann festgenommen, nur damit du ihn in die Mangel nimmst?« fragte sie skeptisch.
»Ich muß ihn wegen Mitri ausfragen«, sagte Brunetti, was nicht die ganze Wahrheit, aber auch nicht direkt gelogen war.
»Ist er vielleicht der Täter?« erkundigte sie sich.
»Könnte sein. Er wurde im Zusammenhang mit noch drei anderen Morden gesucht.«
»Was heißt das, ›im Zusammenhang‹«
Brunetti hatte die Akte gelesen und wußte daher, daß es einen Zeugen gab, der ihn mit dem zweiten Opfer am Abend vor dessen Tod gesehen hatte. Hinzu kam die Schlägerei mit Narduzzi. Und nun fuhr er Lieferwagen für eine pharmazeutische Fabrik. In Castelfranco. Für Bonaventuras Firma. »Er ist darin verwickelt.«
»Aha«, sagte sie, denn sie hörte an seinem Ton, daß er sich nicht genauer äußern wollte. »Dann kommst du also morgen vormittag zurück?«
»Ja.«
»Wann fährst du?« fragte sie, plötzlich einlenkend.
»Um acht.«
»Gehst du vorher noch mal in die Questura?«
»Ja.« Gerade wollte er noch hinzufügen, er müsse fragen, ob der Mann auch wirklich in Untersuchungshaft genommen worden sei, aber er sagte es nicht. Er haßte es zu lügen, aber es erschien ihm besser, als daß Paola sich Sorgen machte, weil er sich wissentlich in Gefahr begab. Wenn sie es wüßte, würde sie sagen, daß sowohl sein Alter als auch seine Stellung ihn eigentlich davon ausnehmen müßten.
Er hatte keine Ahnung, ob oder wo er in dieser Nacht zum Schlafen kommen würde, dennoch ging er ins Schlafzimmer und packte ein paar Sachen in eine kleine Tasche. Dann öffnete er die linke Tür des großen armadio aus Walnußholz, den Conte Orazio ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte, und zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche. Mit einem der Schlüssel schloß er eine Schublade auf, mit einem anderen eine rechteckige Metallkassette. Dieser entnahm er seine Pistole und das Holster, steckte beides in die Tasche und schloß Kassette und Schublade gewissenhaft wieder zu.
Er mußte dabei an die Ilias denken, an Achilles, wie er seine Rüstung anlegte, bevor er in den Zweikampf mit Hektor ging: schwerer Schild, Beinschienen, Speer, Schwert und Helm. Wie mickrig und unedel erschien dagegen dieses kleine Eisending an seiner Hüfte, die Pistole, die Paola immer als Taschenpenis bezeichnete. Und doch, wie schnell hatte die Erfindung des Schießpulvers mit aller Ritterlichkeit, allen von Achilles hergeleiteten Vorstellungen von Ruhm aufgeräumt! Er blieb noch einmal an der Tür stehen und ermahnte sich zur Vorsicht: Er fuhr dienstlich nach Castelfranco und mußte sich von seiner Frau verabschieden.
Er hatte della Corte schon Jahre nicht mehr gesehen, trotzdem erkannte er ihn sofort, als er in die Questura von Padua kam: dieselben dunklen Augen, derselbe ungebärdige Schnurrbart.
Brunetti rief seinen Namen, und della Corte drehte sich augenblicklich um. »Guido«, rief er und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. »Wie schön, dich wiederzusehen.«
Auf dem Weg zu della Cortes Dienstzimmer erzählten sie einander, was sie in den letzten Jahren so gemacht hatten, und dort angekommen, setzten sie
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