Brunetti 09 - Feine Freunde
Rossi bei der Bewältigung dessen half, was er da entdeckt haben wollte. Mit leichten, aber nur sehr leichten Gewissensbissen gestand Brunetti sich ein, daß er tatsächlich die Absicht hatte, Signor Rossi zu benutzen, ja, daß er gewillt war, keine Mühe zu scheuen, um dem jungen Mann zu helfen und sich mit dessen Problem, worin auch immer es bestand, besonders eingehend zu befassen, denn das wäre wieder ein Guthabenpunkt auf seinem Gefälligkeitskonto. Und wenn er dann umgekehrt eine Gefälligkeit in Anspruch nähme, würde diese wenigstens von seinem eigenen Konto abgebucht und nicht von dem seines Schwiegervaters.
Er wartete zehn Minuten, aber das Telefon klingelte nicht. Als es nach einer halben Stunde dann doch klingelte, war es Signorina Elettra, die Sekretärin seines Chefs, die wissen wollte, ob sie ihm die Fotos und die Liste der Schmuckstücke heraufbringen solle, die man auf dem Festland im Wohnwagen eines der vor zwei Wochen festgenommenen Zigeunerkinder gefunden hatte. Die Mutter behaupte, der ganze Schmuck gehöre ihr und befinde sich schon seit Generationen in ihrer Familie. Bei dem Wert der Stücke erschien das höchst unglaubhaft. Brunetti wußte, daß eines davon schon von einer deutschen Journalistin identifiziert worden war, die angab, daß es vor einem Monat aus ihrer Wohnung gestohlen worden sei.
Er schaute auf die Uhr und sah, daß es schon nach fünf war. »Nein, Signorina, sparen Sie sich die Mühe. Das hat Zeit bis morgen.«
»Gut, Commissario«, sagte sie. »Sie können die Liste dann morgen bei mir abholen, wenn Sie zum Dienst kommen.« Sie hielt inne, und er hörte Papierrascheln am anderen Ende der Leitung. »Wenn sonst nichts mehr anliegt, gehe ich jetzt nach Hause.«
»Aber der Vice-Questore?« fragte Brunetti, der sich wunderte, woher sie den Mut nahm, über eine Stunde früher zu gehen.
»Der Vice-Questore ist schon vor dem Mittagessen gegangen«, antwortete sie in unbeteiligtem Ton. »Er hat gesagt, daß er mit dem Questore zum Essen verabredet ist, und soviel ich weiß, gehen sie hinterher ins Amt des Questore.«
Brunetti hätte gern gewußt, wie sein Vorgesetzter sich wohl aufführte, wenn er mit seinem eigenen Vorgesetzten sprach. Pattas Ausflüge in die Gefilde der Macht hatten für die in der Questura Beschäftigten nie Gutes zur Folge: Meist mündeten seine Versuche, seine einseitig ausgerichtete Energie zur Schau zu stellen, in neuen Plänen und Weisungen, die erst einmal erteilt, dann mit Gewalt durchgesetzt und schließlich wieder fallengelassen wurden, wenn sie sich als unsinnig oder überflüssig erwiesen.
Er wünschte Signorina Elettra einen angenehmen Abend und legte auf. Die nächsten zwei Stunden wartete er auf das Klingeln seines Telefons. Als es endlich schon kurz nach sieben war, verließ er sein Zimmer und ging nach unten in den Bereitschaftsraum.
Pucetti hatte Dienst und saß am Tisch, vor sich ein aufgeschlagenes Buch, das Kinn beim Lesen auf die Fäuste gestützt.
»Pucetti?« sagte Brunetti beim Eintreten.
Der Polizist hob den Kopf und war, als er seinen Vorgesetzten erblickte, sofort auf den Beinen. Brunetti sah jedoch erfreut, daß der junge Mann zum erstenmal, seit er hier arbeitete, dem Drang zum Salutieren widerstand.
»Ich gehe jetzt nach Hause, Pucetti. Wenn jemand anruft und ausdrücklich nach mir fragt, ein Mann, dann geben Sie ihm bitte meine Privatnummer und sagen ihm, er soll mich zu Hause anrufen, ja?«
»Selbstverständlich, Commissario«, antwortete der junge Polizist, und diesmal salutierte er doch.
»Was lesen Sie denn da?« erkundigte sich Brunetti.
»Ich lese nicht, Commissario, eigentlich nicht. Ich lerne. Das ist ein Sprachlehrbuch.«
»Sprachlehrbuch?«
»Ja, Russisch.«
Brunetti warf einen Blick in das aufgeschlagene Buch. In der Tat, das waren kyrillische Buchstaben. »Und warum lernen Sie Russisch«, fragte Brunetti und fügte rasch hinzu, »wenn ich das fragen darf?«
»Natürlich dürfen Sie, Commissario«, antwortete Pucetti mit sanftem Lächeln. »Meine Freundin ist Russin, und ich möchte mich gern in ihrer Sprache mit ihr unterhalten können.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie eine Freundin haben, Pucetti«, sagte Brunetti, der an die vielen russischen Prostituierten denken mußte, die Westeuropa überfluteten. Er bemühte sich um einen neutralen Ton.
»Doch, ja«, sagte Pucetti, wobei sein Lächeln immer breiter wurde.
Brunetti faßte sich ein Herz. »Und was macht Ihre Freundin hier in Italien? Arbeitet
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