Brunetti 14 - Blutige Steine
sagte er: »Das ist was anderes.«
»Und Novello?«
»Warum denn nicht?«
»Weil die vucumprà ihm bei der letzten Razzia einen Finger gebrochen haben.«
»Aber das war ein Unfall, Commissario!« ereiferte sich Pucetti. »Novello hatte sich die große Sporttasche mit dem ganzen Warensortiment des Mannes geschnappt, und der reagierte so, wie es jeder an seiner Stelle getan hätte: Er versuchte, sein Eigentum zurückzuerobern. Novellos Finger hatte sich im Schulterriemen verhakt, und als der vucumprà daran zerrte, ist es eben passiert. Absicht war das keine.«
»Also ist der Finger gar nicht gebrochen?« fragte Brunetti, gespannt, wie Pucetti sich da herausreden würde.
»Doch, natürlich ist er gebrochen. Aber der Mann wollte das nicht, und Novello ist ihm auch gar nicht böse deswegen. Das hat er mir selbst gesagt. Und außerdem«, fuhr Pucetti, der jetzt richtig in Fahrt kam, fort, »außerdem ist er einer von den Kollegen, die den vucumprà gerettet haben, der in den Kanal gesprungen war.«
»Um sich der Verhaftung zu entziehen«, bemerkte Brunetti trocken.
Pucetti wollte etwas entgegnen, doch dann stockte er, sah Brunetti prüfend an und fragte: »Machen Sie sich lustig über mich, Commissario?«
Brunetti lachte.
6
E ine Stunde später hatten Brunetti und Pucetti den meisten Beamten in der Questura die Fotos gezeigt. Wobei Brunetti einen alarmierenden Zusammenhang zwischen politischer Gesinnung und den Reaktionen der Leute entdeckte. Von denen, die mit der gegenwärtigen Regierung sympathisierten, bekundeten die wenigsten Mitgefühl oder auch nur Interesse für den Toten. Je weiter links im politischen Spektrum einer stand, desto mehr Anteilnahme durfte man von ihm erwarten. Einzig zwei Polizistinnen zeigten sich zutiefst betroffen über den Mord an einem so jungen Menschen.
Sergente Gravini, der an der letzten Razzia gegen die Straßenhändler teilgenommen hatte, glaubte den Mann auf dem Foto wiederzuerkennen, auch wenn er nicht zu den vucumprà gehörte, die seine Leute in Gewahrsam genommen hatten.
Da die Besprechung unten im Dienstzimmer stattfand, sah Brunetti sich suchend um und fragte: »Haben Sie Fotos von den Festgenommenen?«
»Rubini hat alle Unterlagen in seinem Büro, Commissario«, antwortete der Sergente. »Festnahmeprotokolle, Kopien der Pässe und, sofern vorhanden, der Aufenthaltsgenehmigungen sowie der Briefe, die sie von uns bekommen, und -«
»Briefe?« unterbrach Pucetti. »Wozu schickt ihr ihnen Briefe?«
»Nun, es handelt sich um die Ausweisungsbescheide«, antwortete Gravini, »und wir verschicken sie nicht mit der Post, sondern geben sie den Leuten einfach mit. Damit sie's schwarz auf weiß haben, daß sie binnen achtundvierzig Stunden das Land verlassen müssen.« Gravini schnaubte verächtlich über diese absurde Vorschrift. »Und eine Woche später«, fuhr er fort, »verhaften wir sie aufs neue und drücken ihnen wieder den gleichen Bescheid in die Hand.«
Brunetti machte sich schon darauf gefaßt, daß der Sergente ins gleiche Horn stoßen würde wie am Morgen der Alte auf dem Vaporetto. Doch Gravini zuckte nur die Achseln und sagte: »Ich weiß nicht, was der ganze Zirkus soll. Die vucumprà tun doch keinem was; sie versuchen bloß, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und niemand zwingt die Leute, ihnen ihre Taschen abzukaufen.«
»Hören Sie, Gravini«, fiel Pucetti plötzlich ein, »Sie sind doch neulich in den Kanal gesprungen, nicht?«
Gravini senkte verlegen den Kopf. »Was hätte ich anderes tun sollen? Er war neu, also der Junge, der ins Wasser gefallen ist. War wohl seine allererste Razzia. Jedenfalls geriet er in Panik - war ja praktisch noch ein Kind - und nahm Reißaus. Kann man ihm nicht verdenken, wo von allen Seiten die Bullen auf ihn Jagd machten, oder? Es war drüben am Campo della Misericordia, und als er über die Brücke rannte - die ohne Geländer -, muß er über irgendwas gestolpert sein und ist in den Kanal gestürzt. Bis hinten zur Kirche habe ich ihn schreien hören. Als wir dazukamen, zappelte er wie ein Irrer und fuchtelte wild mit den Armen. Da habe ich gar nicht lange überlegt, sondern bin ihm einfach nachgesprungen. Erst als ich drin war, merkte ich, daß der Kanal gar nicht tief ist, jedenfalls nicht in Ufernähe. Weiß auch nicht, warum der Junge sich so angestellt hat.« Gravini bemühte sich wenig überzeugend, den Erzürnten zu spielen. »Meine Jacke war hin, und Bocchese hat einen ganzen Tag gebraucht, um den Schlamm aus meiner
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