Brunetti 14 - Blutige Steine
glaube ich, aus dem Senegal«, sagte Elettra.
»Ja, ich weiß. Aber mich interessiert, ob sie auch aus der gleichen Gegend stammen, ob sie sich untereinander kennen, vielleicht sogar miteinander verwandt sind.«
»Und wahrscheinlich«, fuhr die Signorina fort, »möchten Sie auch noch wissen, wer der Ermordete war.«
»Ja, sicher, doch das herauszufinden dürfte nicht ganz einfach werden. Bis jetzt hat sich noch niemand nach ihm erkundigt, und als Tatzeugen haben wir nur ein paar amerikanische Touristen. Aber alles, was die gesehen haben, war ein großer Mann mit behaarten Händen, ihrer Einschätzung nach ein ›Südländer‹, mit anderen Worten ein dunkler Typ. Es war auch noch von einem zweiten Mann die Rede, über den sie allerdings nichts weiter sagen konnten, als daß er kleiner war als der andere. Ansonsten ist die Beweislage so unergiebig, daß der Mord genausogut in einer anderen Stadt passiert sein könnte. Um nicht zu sagen auf einem anderen Stern.«
Nach einer Pause versetzte Elettra nachdenklich: »Da leben sie ja eigentlich auch, oder?«
»Wie bitte?« fragte Brunetti verwirrt.
»Ich meine, sie haben keinerlei Kontakt zu uns, jedenfalls keinen richtigen«, erklärte die Signorina. »Sie tauchen aus dem Nichts auf, breiten ihre Tücher aus, verkaufen ihre Taschen und verschwinden dann so still und heimlich, wie sie gekommen sind. Als ob sie einer Raumkapsel entstiegen wären, mit der sie dann wieder davonschweben.«
»Trotzdem kann man sie wohl kaum mit Außerirdischen vergleichen«, meinte er.
»Doch, doch, Commissario! Schauen Sie, weder reden wir mit den Leuten, noch nehmen wir sie richtig wahr.« Elettra sah ihm an, daß er widersprechen wollte, und fuhr eindringlich fort: »Nein, nein, ich mache nicht unsere Gesellschaft dafür verantwortlich, wie wir die vucumprà behandeln, und ich will sie auch gar nicht verteidigen, so wie meine Freunde, die in jedem schwarzen Straßenhändler ein Opfer von diesem oder jenem sehen. Ich finde es einfach nur merkwürdig, daß diese Leute unter uns leben, aber bis auf die paar Abendstunden, in denen sie auf den Straßen ihre Sachen verkaufen, schlichtweg unsichtbar bleiben.« Ihr forschender Blick schien zu fragen, ob er auch begriff, wie ernst es ihr war. »Darum habe ich gesagt, sie leben auf einem anderen Stern«, schloß sie. »Und wir auf unserem Planeten schenken ihnen offenbar nur dann Beachtung, wenn wir eine Razzia gegen sie veranstalten.«
Brunetti konnte nicht umhin, ihr recht zu geben. Unwillkürlich mußte er an den Abend im vorigen Jahr denken, als er und Paola auf dem Weg in ein Restaurant von einem plötzlichen Unwetter überrascht worden waren. Im Nu wimmelte es auf den Straßen von Tamilen, die bündelweise Taschenschirme für fünf Euro das Stück anboten. Paola hatte damals gesagt, diese wieselflinken Händler kämen ihr vor wie schockgefroren: Man bräuchte sie nur zu wässern, und schon entfalteten sie sich zur vollen Lebensgröße. Nicht anders verhielt es sich mit den vucumprà, dachte er: Auch sie hatten die Gabe, wie aus dem Nichts aufzutauchen und dann ebenso unbemerkt wieder zu verschwinden.
Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, Signorina Elettras Argument aufzugreifen. »Dann lassen Sie uns doch da ansetzen«, sagte Brunetti. »Versuchen Sie einmal herauszubekommen, wohin die Leute nachts verschwinden.«
»Mit anderen Worten, Sie wollen wissen, wer an die vucumprà vermietet und wo?«
»Genau. Gravini sagt, ein paar von ihnen teilen sich eine Wohnung in Castello, bei seiner Mutter in der Nähe. Bitten Sie ihn um die Adresse, oder sehen Sie im Telefonbuch nach: Es ist ja kein Allerweltsname.« Brunetti vergegenwärtigte sich, was Gravini über seine sensible Beziehung - man konnte schwerlich von Freundschaft sprechen, wenn der Kontakt darauf fußte, daß ein Mann den anderen in Gewahrsam nahm - zu Muhammad gesagt hatte. »Vorläufig will ich weiter nichts als die Adresse. Solange Gravini nicht mit seinem Bekannten gesprochen hat, werde ich nichts unternehmen. Vielleicht finden Sie ja auch noch anderswo Hinweise auf Leute, die an die vucumprà vermieten.«
»Sie meinen, da gibt's Verträge?« fragte sie erstaunt. »In dem Fall wären natürlich Kopien bei der Stadtverwaltung hinterlegt.«
Brunetti teilte ihre Skepsis. Die meisten Hausbesitzer wären wohl kaum bereit, Afrikanern den Schutz eines ordentlichen Mietvertrages angedeihen zu lassen, den sie ja schon ihren venezianischen Landsleuten höchst ungern
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