Brunetti 14 - Blutige Steine
allerdings war ihnen durch die wachsende Aufdringlichkeit, mit der sie bei den Passanten um Käufer warben, und durch ihr immer zahlreicheres Auftreten viel von der einstigen Gunst der Venezianer verlorengegangen.
In den Statistiken der letzten Jahre suchte Brunetti vergebens nach Festnahmen, die aus anderen Gründen erfolgt waren als Verstoß gegen die Visabestimmungen oder illegaler Straßenhandel. Vor sechs Jahren hatte es einmal eine Vergewaltigung gegeben, aber der Täter war, wie sich herausstellte, kein Senegalese, sondern Marokkaner. Im einzigen anderen Fall, bei dem Gewalt im Spiel war, hatte ein Senegalese einen albanischen Taschendieb die halbe Lista di Spagna hinauf verfolgt, bis er ihm ein Bein stellte und ihn zu Fall brachte. Der Afrikaner hatte sich dem Dieb auf den Rücken gesetzt und ihn festgehalten, bis die Polizei, die einer seiner Freunde mit dem telefonino herbeigerufen hatte, eintraf und den Albaner verhaftete. Um ihn, wie eine handschriftliche Notiz vermerkte, noch am selben Tag wieder auf freien Fuß zu setzen, weil sich herausstellte, daß er noch minderjährig war. Da nützte es auch nichts, daß sich der Junge bereits mehrfach wegen des gleichen Delikts strafbar gemacht hatte. Er bekam lediglich die übliche schriftliche Verwarnung ausgehändigt und wurde aufgefordert, binnen achtundvierzig Stunden das Land zu verlassen.
Der letzte Ordner enthielt spekulative Hochrechnungen: Im vorigen Sommer hatten, Schätzungen zufolge, an manchen Tagen zwischen drei- und fünfhundert venditori ambulanti die Straßen gesäumt; zwar gelang es, diese extrem hohe Zahl durch häufigere Razzien zu senken, doch inzwischen war man wieder bei fast zweihundert angelangt.
Als Brunetti alle Protokolle durchgesehen und sich vergewissert hatte, wie spät es war, griff er zum Telefon. Aus dem Gedächtnis wählte er die Nummer von Marco Erizzo, der sich nach dem zweiten Klingeln meldete. »Was willst du diesmal, Guido?« fragte er lachend.
»Ich hasse diese neumodischen Telefone«, entgegnete Brunetti. »Heutzutage kann man niemanden mehr überrumpeln.«
»Sehr James-Bond-mäßig, ich weiß«, gab Erizzo zu, »doch dank dieses Systems kann ich eine Menge lästiger Anrufe rausfiltern.«
»Und mich hast du nicht rausgefiltert, obwohl du wußtest, daß ich dich wahrscheinlich um einen Gefallen bitten würde?« Brunetti sparte sich den höflichen Small talk über Marcos Familie und erwartete auch umgekehrt keine diesbezüglichen Fragen: Der Freund kannte ihn lange genug, um schon an seiner Stimme zu erkennen, daß der Anruf dienstlich war.
»Ich interessiere mich immer für das, was unsere Ordnungskräfte so treiben«, sagte Erizzo mit gespielt feierlichem Ernst. »Natürlich nur, damit ich weiß, ob ich irgendwie behilflich sein kann.«
»Ich bin nicht von der Finanza, Marco«, versetzte Brunetti.
»Bitte keine Witze darüber, Guido«, entgegnete Erizzo deutlich kühler. »Und merk dir endlich, daß du sie mir gegenüber nicht beim Namen nennen sollst, schon gar nicht, wenn du mich auf dem telefonino anrufst.«
Marco war felsenfest davon überzeugt, daß sämtliche Telefonate, ganz zu schweigen von E-Mail und Fax, abgehört würden, namentlich von der Finanzpolizei. Brunetti, der auf diese fixe Idee jetzt nicht eingehen wollte, fragte ausweichend: »Aber anders bist du telefonisch ja so gut wie nie zu erreichen, oder?«
»Stimmt, bei den anderen Apparaten gehe ich gar nicht erst ran, wenn's klingelt. Aber nun zur Sache, Guido.«
»Es geht um die vucumprà«, erklärte Brunetti.
Marco verschwendete keine Zeit auf die naheliegende Frage, ob der Mord vom Vorabend damit zu tun habe, sondern sagte lapidar: »Auf offener Straße, das hat's hier in der Stadt schon ewig nicht mehr gegeben, stimmt's? Jedenfalls nicht seit sie diesen Carabiniere erschossen haben - wann war das: 1978?«
»So um den Dreh«, bestätigte Brunetti. Wie fern und entrückt diese furchtbaren Jahre mittlerweile schienen. »Aber was die vucumprà angeht: Weißt du was über sie?«
»Und ob!« versetzte Erizzo aufbrausend. »Daß sie mir neuneinhalb Prozent von meinem Umsatz wegnehmen.«
»Woher weißt du das so genau?«
»Weil ich ausgerechnet habe, wie viele Taschen bei mir verkauft wurden, bevor und seitdem die vucumprà kamen. Die Differenz beträgt bis heute neuneinhalb Prozent.« Die letzten Silben preßte er zähneknirschend hervor.
»Und warum unternimmst du nichts dagegen?«
Erizzo lachte schallend, doch es klang ganz und gar
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