Brunetti 14 - Blutige Steine
etwas mit dem gestrigen Abend zu tun haben.«
»Sie meinen den toten Nigger?«
»Ich meine den toten Afrikaner«, korrigierte Brunetti.
»Ist das alles?« »Ja.«
»Ich rufe Sie wieder an«, sagte Sandrini und legte auf.
Wäre Renato Sandrini weniger unhöflich gewesen, hätte Brunetti vielleicht Gewissensbisse bekommen, weil er den Mann immer wieder in die Enge trieb, um nicht zu sagen erpreßte. Doch dessen ständige Grobheiten und arrogantes Gehabe in der Öffentlichkeit ließen Brunetti seine Macht fast ungeniert genießen. Vor zwanzig Jahren hatte Sandrini, damals ein junger Strafverteidiger in Padua, die einzige Tochter eines ortsansässigen Mafiabosses geheiratet. Nachwuchs stellte sich ein und eine Flut schwerreicher Mandanten. Seine glänzenden Erfolge im Gerichtssaal hatten Sandrini in seiner Vaterstadt berühmt gemacht. Seine Kanzlei wuchs und wuchs und mit ihr der Umfang seiner Gattin Julia, die mit vierzig aussah wie ein Faß, allerdings eins mit einem Faible für sündteure Juwelen und einer beängstigend tyrannischen Liebe zu ihrem Mann.
Nichts davon hätte sich zu Sandrinis Nachteil oder zu Brunettis Vorteil ausgewirkt, wäre nicht eines schönen Tages in einem Hotel am Lido ein Feuer ausgebrochen, das in einigen Zimmern zu lebensbedrohlicher Rauchentwicklung führte. Vier der Gäste wurden ohnmächtig ins Krankenhaus eingeliefert, wo sich herausstellte, daß der Herr aus Zimmer 307, der sich als Franco Rossi eingetragen hatte, Kreditkarten auf den Namen Renato Sandrini sowie dessen carta d'identità bei sich trug. Glücklicherweise hatte er rechtzeitig das Bewußtsein wiedererlangt, um zu verhindern, daß die Klinik seine Frau verständigte, aber leider nicht, bevor die Polizei gerufen wurde, um die Identitätsfrage zu klären. Trotzdem hätte sich das Ganze noch als bürokratisches Versehen unter den Teppich kehren lassen, wären nicht zwei mißliche Umstände hinzugekommen: Die andere Person in Sandrinis Hotelzimmer war eine fünfzehnjährige albanische Prostituierte, und das Protokoll über den Vorfall landete am nächsten Morgen auf dem Schreibtisch von Guido Brunetti.
Der Commissario war klug genug, sich nicht eher an Sandrini zu wenden, als bis er ausführlich mit der Prostituierten und ihrem Zuhälter gesprochen hatte und im Besitz der protokollierten Aussagen sowie der Videomitschnitte ihrer Vernehmungen war. Die er nur bekam, weil er sie in dem Glauben ließ, es handele sich bei dem Freier um einen gewissen Franco Rossi, Großhändler für Teppichböden aus Padua. Hätten sie auch nur die leiseste Ahnung gehabt, wer der Mann wirklich war - und vor allem, wen er zum Schwiegervater hatte -, wären beide bestimmt lieber ins Gefängnis gegangen, als sich so lange und eingehend mit diesem freundlichen Commissario aus Venedig zu unterhalten.
Ein einziges Gespräch mit Sandrini hatte Brunetti genügt, um den Anwalt zu überzeugen, daß er - in Anbetracht der noch recht viktorianischen Auffassung so mancher Mafiosi, was die Unantastbarkeit des Ehegelübdes betraf - gut daran täte, dem freundlichen Commissario aus Venedig hin und wieder ein paar Informationen zukommen zu lassen. Bislang hatte Brunetti sein Versprechen gehalten und Sandrini niemals genötigt, die Schweigepflicht gegenüber seinen Mandanten zu verletzen. Aber der Commissario wußte sehr wohl, daß er, sofern es seinen Zwecken dienlich wäre, erbarmungslos jede Information aus Sandrini herausquetschen würde.
Brunetti legte die gelesenen Akten in den Ausgangskorb und ging, seltsam erheitert von dem Gedanken an seine eigene Durchtriebenheit, zum Mittagessen nach Hause.
8
F alls er geglaubt hatte, die unbehaglichen, zwiespältigen Gefühle in der Questura zurückzulassen, sah Brunetti sich gründlich getäuscht, denn beides holte ihn in seinen eigenen vier Wänden wieder ein. Paola und Chiara trugen ihre moralische Entrüstung so auffällig zur Schau wie die Wucherer in Dantes siebtem Höllenkreis die Geldsäcke um ihren Hals. Vermutlich wähnten sich beide, Frau und Tochter, im Recht. Denn wann hätte eine streitende Partei sich je im Unrecht gefühlt?
Brunetti fand seine Familie bei Tisch. Er küßte Paola auf die Wange und verwuschelte Chiaras Haare, doch sie zog rasch den Kopf ein, als wolle sie nicht von einer Hand berührt werden, die zuvor auf der Schulter ihrer Widersacherin gelegen hatte. Brunetti tat so, als habe er nichts bemerkt, setzte sich auf seinen Platz und erkundigte sich bei Raffi nach der Schule. Sein
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