Brunetti 14 - Blutige Steine
lächelte ihm verstohlen zu, und nach kurzem Zögern mußte Vianello sich geschlagen geben. Reumütig schüttelte er den Kopf zum Zeichen seiner Bewunderung für Brunettis Grundsatz, niemandem blind zu vertrauen.
Diana, erinnerte sich Brunetti, hatte keines Ansporns und keiner Weisung bedurft: Beim leisesten Blätterrascheln war sie losgesaust wie der Wind. Auch Signorina Elettra verlor keine Zeit, sondern kam ohne Umschweife zur Sache: »Sie meinen den Expriester, Commissario?«
»Ja.«
In einer anmutig fließenden Bewegung erhob sie sich. »Ich werde sehen, was sich machen läßt.«
»Aber doch jetzt nicht mehr, Signorina. Es ist ja schon fast acht«, wehrte Brunetti ab.
»Bloß ein kurzer Check-up«, flötete Elettra, und weg war sie.
Als die Tür hinter ihr ins Schloß fiel, meinte Vianello: »Machen Sie sich keine Sorgen, Commissario. Ein Bett hat sie hier jedenfalls nicht, also wird sie schon irgendwann nach Hause gehen.«
10
A uf der Fahrt nach San Silvestro fand Brunetti einen Platz im hinteren Teil der Kabine, backbords, mit Blick auf San Giorgio und die Häuserfronten der Dorsoduro-Seite des Kanals. Doch während die Fassaden an ihm vorüberglitten, hatte er Venedig, ja ganz Europa in Gedanken weit hinter sich gelassen. Was ihn beschäftigte, waren die chaotischen Zustände auf dem afrikanischen Kontinent und der endlose Historikerstreit darüber, was sie verschuldet habe, die ausbeuterische Kolonialpolitik oder die Stammesfehden der Afrikaner untereinander. Brunetti, der sich zwar kein eigenes Urteil anmaßen wollte - dazu fühlte er sich nicht kompetent genug -, hatte gleichwohl wenig Hoffnung, daß die gegnerischen Parteien sich je auf eine sogenannte historische Wahrheit einigen würden.
Eindrucksvolle Bilder stiegen aus seiner Erinnerung auf: Joseph Conrads Kriegsschiff, das vergeblich Salve um Salve in den Dschungel feuert, um die Eingeborenen gewaltsam zu befrieden; Leichenberge, angeschwemmt an den Gestaden des Victoriasees; die glänzend polierte Oberfläche einer Benin-Bronze; unergründliche Schächte, in deren Tiefen der Mensch dem Erdreich seine Schätze entriß. Für sich genommen verkörperte nichts von alledem Afrika - ebensowenig wie die Brücke, unter der sein Boot gerade hindurchfuhr, für Europa stand; vielmehr war jedes dieser Bilder Teil eines Puzzles, das niemand zu deuten verstand. Brunetti erinnerte sich an den lateinischen Spruch, der auf einer Karte aus dem sechzehnten Jahrhundert die Grenze abendländischer Forschung in Afrika versinnbildlichte: Hic scientia finit - Hier endet die Erkenntnis. Wie arrogant wir doch waren, dachte Brunetti, und immer noch sind.
Daheim herrschte Frieden, oder genauer gesagt: ein scheinbar stabiler Waffenstillstand. Chiara und Paola sprachen bei Tisch wieder ganz unverkrampft miteinander, und die zwei Portionen Pasta mit Brokkoli und Kapern, gefolgt von zwei gebackenen Birnen, die Chiara verzehrte, ließen darauf schließen, daß sie ihren Appetit wiedergefunden hatte. Brunetti jedenfalls wertete es als gutes Zeichen und legte sich nach dem Essen entspannt aufs Sofa im Wohnzimmer, auf dem Tisch neben sich ein winziges Gläschen Grappa und vor sich auf dem Bauch seine derzeitige Lektüre. Seit einer Woche hatte er sich wieder einmal Ammianus Marcellinus' Geschichte des römischen Spätreichs vorgenommen, worin er besonders das Porträt Kaiser Julians schätzte, eines Herrschers, der zu seinen großen Vorbildern gehörte. Doch selbst hier holte ihn das Thema Afrika unversehens wieder ein, als er nämlich an die Stelle kam, wo die Belagerung der Stadt Leptis in Tripolis geschildert wird. Angreifer wie Verteidiger gingen mit Falschheit und Tücke zu Werk. Geiseln wurden getötet, Kriegern schnitt man die Zunge heraus, nur weil sie eine unliebsame Wahrheit verkündet hatten, und verwüstete die umliegenden Ländereien durch Brandschatzen und Plünderung. Brunetti las bis zum Ende des achtundzwanzigsten Buches, dann klappte er den Band zu und beschloß, früh schlafen zu gehen; das würde ihm besser bekommen als weitere Lektionen darüber, wie wenig die Menschheit in fast zwei Jahrtausenden hinzugelernt hatte.
Am Morgen, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, sprach er mit Paola über Chiara, doch keiner von beiden konnte sich erklären, was ihre Tochter wieder zur Vernunft gebracht hatte. Der besorgte Brunetti erging sich abermals in Mutmaßungen darüber, wie Chiara wohl zu ihrer rassistischen Äußerung gekommen war.
Paola ließ ihn ruhig
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