Brunetti 14 - Blutige Steine
eins höher vorzunehmen und auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Vorsichtig zog er die Salzschachtel hervor und hielt sie an einer Ecke zwischen Daumen und Zeigefinger, bis der Kriminaltechniker ihm eine Plastiktüte reichte. »Von den Fingerspuren auf diesem Beweisstück dürfte die Mehrzahl mit denen des Ermordeten identisch sein. Einige weitere stammen von mir, aber ich möchte wissen, ob auch noch andere drauf sind.« Die Tür zur Dachkammer, erklärte er weiter, sei unverschlossen. Im übrigen handele es sich um einen sehr dringenden Fall, Boccheses Labor solle also die Funde aus dem Zimmer des Toten so rasch wie möglich auswerten. Der Mann wandte sich schon zur Treppe, als Brunetti noch etwas einfiel. »Wenn Sie oben fertig sind, achten Sie bitte darauf, alle eventuellen Spuren zu verwischen, ja? Niemand darf merken, daß Sie da waren. Und damit wir auf Nummer Sicher gehen, sollten Sie sich diese Wohnung auch noch vornehmen.«
Der Mann hob die Hand über den Kopf zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und stieg die Treppe hinauf. Da es für Brunetti und seinen Inspektor hier nichts mehr zu tun gab, gingen sie wieder nach unten. An der Flurtür im ersten Stock blieb Brunetti stehen und klopfte, aber niemand öffnete.
»Glauben Sie, die sind ausgeflogen?« fragte Vianello.
Bei einem Blick auf die Uhr stellte Brunetti verblüfft fest, daß es bereits nach sieben war, sie also über zwei Stunden im Haus zugebracht hatten. »Im Zweifelsfall sind sie zur Arbeit gegangen.« Beide wußten, daß die vucumprà, um die unmittelbare Konkurrenz mit den Ladenbesitzern zu umgehen, hauptsächlich abends nach Geschäftsschluß arbeiteten oder auch während der Siestastunden am Mittag. »Vor Mitternacht sind die bestimmt nicht zurück«, meinte Brunetti.
»Und was nun?«
»Nun gehen wir heim zum Abendessen, und morgen früh besuche ich Claudio.«
»Möchten Sie, daß ich Sie begleite?« fragte Vianello.
»Um mich wieder zu beschützen?« scherzte Brunetti und wies auf die Tür, hinter der die Afrikaner wohnten.
»Wenn Ihr Signor Claudio in der Branche ist, in der ich ihn vermute, dann wäre vermutlich er der Schutzbedürftige«, antwortete Vianello, doch er schmunzelte dabei.
»Claudio und mein Vater haben sich 1946 zu Fuß von Berlin bis Venedig durchgeschlagen. Wer das geschafft hat, für den ist Gefahr wohl eher ein Fremdwort«, versetzte Brunetti, dankte Vianello gleichwohl für das gutgemeinte Angebot und machte sich auf den Weg nach Hause, zu Schweinebraten mit Oliven in Tomatensauce.
13
C laudio Stein hatte sein Büro in einer kleinen Wohnung unweit des Piazzale Roma, am Ende einer Sackgasse, die nur einen Steinwurf vom Gefängnis entfernt lag. Brunetti war schon oft dort gewesen. Als Kind hatte er seinen Vater begleitet und gespannt zugehört, wenn die beiden Männer in Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit schwelgten: die unbeschwerte Jugend in Venedig, vor dem Krieg, dann die Soldatenzeit auf der griechischen Halbinsel und in Rußland. Im Lauf der Jahre hatte Brunetti nach und nach all ihre Geschichten kennengelernt: die von dem Priester in Castello, der ihnen einreden wollte, es sei eine Sünde, nicht den Faschisten beizutreten; von der Frau in Thessaloniki, die ihnen eine Flasche Ouzo spendiert hatte; von dem martialischen Artilleriehauptmann, der sie mit Gewalt in seine Einheit zwingen wollte und dessen sie sich nur mit vorgehaltener Waffe erwehren konnten. Aus all ihren Abenteuern gingen die beiden Freunde siegreich hervor, aber wenn man es recht bedachte, war schon die Tatsache, daß sie diesen Krieg überlebt hatten, Siegesbeweis genug.
Nachdem er ihre Geschichten wieder und wieder gehört hatte, ging Brunetti allmählich auf, daß die Heldenrolle bei allen Abenteuern der Vorkriegszeit seinem Vater zufiel: Er war überschwenglich, großzügig und gescheit, weshalb die Jungs aus ihrem Viertel ihn ganz selbstverständlich zum Anführer erkoren hatten. Nach dem Krieg hingegen übernahm der eher in sich gekehrte Claudio den dominierenden Part: ein zurückhaltender, aber grundanständiger und verläßlicher Junge und, in seinem Verhältnis zum Freund, der loyale Beschützer. Claudio hatte gelernt, eine Erzählung elegant abzublocken, sobald sie auf Themen zusteuerte, die bei Brunetti senior womöglich einen seiner selbstzerstörerischen Wutanfälle hätte auslösen können. Umsichtig lenkte er negative Schilderungen von Politikern, Offizieren oder Kriegsausrüstung immer wieder zurück zu den
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