Brunetti 14 - Blutige Steine
Ton.
Die Antwort lag Brunetti auf der Zunge: In einem Mordfall dürfe niemand die Flinte ins Korn werfen und einfach aufgeben. Aber damit hätte er Patta nur verraten, daß er nicht die Absicht hatte, seine Ermittlungen einzustellen. Also nahm er doch wieder Zuflucht zur Lüge und antwortete mit einem mürrischen: »Nein.« Und mit soviel schmerzlicher Resignation in der Stimme, wie er aufzubieten vermochte, fügte er hinzu: »Darüber kann ich nicht entscheiden.« Sollte Patta daraus machen, was er wollte.
»Sind Sie demnach endlich gewillt, Vernunft anzunehmen, Brunetti?« fragte Patta in einem Ton, der weder Befriedigung noch Triumph verriet.
»Jawohl. Wenn also das Ministerium diesen Fall übernimmt, soll ich dann mit der Universitätssache weitermachen?« Brunetti bezog sich auf die jüngst eingeleiteten Untersuchungen an der Facoltà di Scienze Giuridiche, wo einige der Professoren und Privatdozenten aus der Rechtsgeschichte im Verdacht standen, die Prüfungsaufgaben der Abschlußexamina an zahlungswillige Studenten verkauft zu haben.
»Ja, tun Sie das«, sagte Patta, und Brunetti wartete auf den mahnenden Nachsatz, der so sicher folgen würde, wie der Anfangsteil einer Da-capo-Arie am Schluß wiederkehrt. Und richtig: »Ich möchte aber, daß die Angelegenheit diskret gehandhabt wird«, mahnte Patta. »Diese Trottel von der Universität in Rom haben einen Riesenskandal am Hals, und der Rektor der hiesigen Hochschule möchte eine ähnliche Blamage wenn irgend möglich vermeiden. So was schadet doch nur dem guten Ruf.«
»Ganz recht, Vice-Questore.« Worauf Brunetti sich, sehr zur Verblüffung seines Vorgesetzten, erhob und das Büro verließ. Seine Frau lehrte seit fast zwanzig Jahren an der Universität, und Brunetti wußte daher ganz gut, wie hoch das Ansehen war, das die Hochschule zu verspielen hatte.
Signorina Elettra war nicht an ihrem Schreibtisch, doch er fand sie draußen im Treppenflur. »Oh, Commissario! Vorhin kam ein Anruf für Sie von Don Alvise.«
»Danke, Signorina. Ach, übrigens, kennen Sie sich eigentlich persönlich?« fragte Brunetti, selbst überrascht, daß er die Möglichkeit nicht schon früher in Betracht gezogen hatte.
»Ja, schon seit ein paar Jahren. Er bittet mich hin und wieder um Informationen.«
Brunettis Neugier war geweckt. »Was denn für Informationen?«
»Nichts, was mit der Polizei zu tun hätte, Commissario, oder mit meiner Arbeit hier. Das kann ich Ihnen versichern.« Mehr ließ sie sich nicht entlocken.
»Sie haben mit ihm gesprochen?«
»Ja.«
»Und was hat er gesagt?«
»Daß er sich bei einer Reihe von Leuten umgehört habe, von denen einige den Mann, nach dem Sie sich erkundigt hätten, für einen guten, andere dagegen für einen schlechten Menschen hielten.«
Brunetti verspürte eine jähe Anwandlung von Zorn: Dagegen waren ja die dunklen Prophezeiungen der Sybille von Cumae ein offenes Buch!
Er wartete einen Moment, bis sein Unmut sich gelegt hatte, bevor er weiterfragte: »Und Don Alvise selber? Hat er sich nicht dazu geäußert?«
»Nein.«
»Kannte er den Mann?« forschte Brunetti fast gebieterisch.
»Das müssen Sie ihn schon selber fragen, Commissario.«
Brunettis Blick wanderte an ihr vorbei zu der Fotografie eines ehemaligen Questore. »Sonst noch was?«
»Ich bin den Spuren des- oder derjenigen nachgegangen, die meinen Rechner angezapft haben«, antwortete Signorina Elettra, »und diese Spuren führen eindeutig nach Rom.«
»Ach, und wohin da?« fragte er mürrisch, fügte aber gleich darauf mit einem zerknirschten Lächeln hinzu: »Gut gemacht, Signorina.« Sicher war sie ganz stolz auf die Entdeckung, daß der Spion im Innenministerium saß, und um ihr die Freude nicht zu verderben, stellte Brunetti sich ahnungslos: »Also, wer steckt dahinter?«
»Il Ministerio degli Esteri.«
»Das Außenministerium?« fragte er mit unverhohlenem Staunen.
»Ja.« Und bevor er etwas einwenden konnte, bekräftigte sie: »Ich bin mir ganz sicher, Commissario.«
Brunetti, der im Geiste schon auf halber Treppe zum Innenministerium gestanden hatte, mußte seine Phantasie nun im Zickzackkurs quer durch die Hauptstadt jagen, hin zu einem ganz anderen Gebäude; die Motivliste, die er bereits im Kopf hatte, mußte verworfen und durch eine neue ersetzt werden. Seit über zehn Jahren wetteiferten die beiden Ministerien darum, wer das Problem der illegalen Einwanderung am besten ignorieren könne; und wenn ein Unglück auf See oder ein Grenzzwischenfall
Weitere Kostenlose Bücher