Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
stehen. Dann wandte sie sich ihm wieder zu, und sie gingen gemeinsam weiter. »Es ist schon vorgekommen, daß Studenten, die erfuhren, sie sollten von der Amadori geprüft werden, sich eigens ein ärztliches Attest beschafften, damit ihr Examen verschoben wurde.«
»Könnte es sein, daß sie einfach nur sehr viel verlangt?« warf Brunetti ein.
Paola stand wie angewurzelt; dann trat sie einen Schritt zurück und sah ihn durchdringend an. »Signore, Sie leben doch seit gut zwanzig Jahren mit mir zusammen, nicht wahr? Und? Habe ich mich in all der Zeit gelegentlich über diese Dame beschwert?«
»Sechshundertsiebenundzwanzigmal«, antwortete Brunetti. »Falls das für gelegentliche Beschwerden reicht.«
»Gut«, sagte sie, nahm seinen Arm und zog ihn weiter. »Dann weißt du ja auch, daß es nichts mit Leistungsansprüchen zu tun hat, sondern daß sie einfach eine mißgünstige Schlange ist, die jede etwaige Konkurrenz im Keim erstickt.«
»Indem sie ihre Studenten durchs Examen rasseln läßt?« fragte Brunetti verwirrt.
»Damit die keinen akademischen Grad erlangen, ja. Ohne den ist ihnen der Eintritt in die Fakultät versperrt, und solange sie aus dem Kollegenkreis ausgeschlossen bleiben, haben sie natürlich auch nie die Chance auf eine Berufung, einen Lehrauftrag oder ein Forschungsstipendium, worauf die Amadori selber scharf sein könnte.«
»Aber das ist doch verrückt«, sagte Brunetti.
Wieder blieb Paola stehen. »Spricht so der Mann, der für Vice-Questore Giuseppe Patta arbeitet?« fragte sie.
»Das kann man doch nicht vergleichen«, wehrte er hastig ab.
»Und wieso nicht?« Paola schien entschlossen, sich nicht vom Fleck zu rühren, solange sie keine befriedigende Antwort erhalten hatte.
»Patta hat keine Gewalt über das, was ich tue. Und er kann mich bei keiner Prüfung durchfallen lassen.«
Sie starrte ihn an wie einen, der plötzlich schäumt und heult wie ein Irrer. »Keine Gewalt über das, was du tust?« wiederholte sie.
Brunetti zuckte lächelnd die Achseln. »Schon gut, aber ein Examen kann er mir nicht vermasseln.«
Paola lächelte zurück und hakte sich wieder bei ihm unter. »Verlaß dich drauf, Guido, sie ist eine Schlange.«
»Ich bin gewarnt«, lenkte er ein. »Und er? Der Professor?«
»Die Ehe wurde im Himmel geschlossen« war alles, was Paola zu dem Thema beisteuern mochte.
Am Kanal angekommen, wandten sie sich erst nach links und dann, sobald sie den Ponte Ballarin überquert hatten, nach rechts. »Hier muß es irgendwo sein.« Paola verlangsamte ihren Schritt und spähte in die Auslagen der Läden und Galerien, an denen sie vorbeikamen.
»Die Adresse steht doch sicher auf der Einladung«, sagte Brunetti.
»Ja, schon«, versetzte Paola. »Die hab ich nur leider zu Hause vergessen.«
Also schlenderten sie weiter die riva entlang und achteten auf die Schaufenster zu ihrer Linken. Als nächstes kam eine pescheria, gefolgt von anderen Geschäften, die teils noch geöffnet, teils schon geschlossen waren. Dann traten aus einem Eingang vor ihnen drei Personen mit Gläsern in der Hand, die auf dem Gehsteig stehenblieben und sich jeder eine Zigarette ansteckten, wobei sie sich gegenseitig die Drinks hielten.
»Das muß es sein«, rief Paola. In dem Moment kam ein Paar ohne Getränke heraus und schlenderte Hand in Hand in die andere Richtung davon.
Als die Brunettis den Eingang erreichten, traten wieder zwei Raucher, diesmal mit bereits brennenden Zigaretten, ins Freie und gesellten sich zu dem Dreiergrüppchen, das jetzt an der Uferbefestigung lehnte und die Gläser auf der Mauer abgestellt hatte.
Die Tür stand offen. Paola ging voraus, blieb aber gleich an der Schwelle stehen und sah sich nach Bekannten um. Brunetti tat es ihr nach, allerdings mit weniger Aussicht auf Erfolg. Zwar entdeckte auch er einige vertraute Gesichter, aber auf die venezianische Art, wo man über Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte immer wieder an denselben Leuten vorbeilief, ohne je zu erfahren, wie sie hießen oder was für einen Beruf sie hatten. Weshalb er schwerlich auf jenen Mann zugehen konnte, der im Lauf der Zeit fast kahl geworden war, um sich nach seinem bedauerlichen Haarausfall zu erkundigen; ebensowenig wie er die frisch erblondete Dame fragen konnte, warum sie so stark zugenommen hatte.
Sobald er durch eine kleine Lücke in der Menschenmenge einen Blick auf die Doppelreihe der Ausstellungsvitrinen erhaschte, schlängelte Brunetti sich dorthin durch und überließ es Paola, alte
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