Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
anderes Geburtsdatum, und die Leute, die sie dann abholen und sich als ihre Eltern ausgeben, haben wir nie zuvor gesehen, genausowenig wie die Papiere, die sie uns vorlegen.« Patta wollte etwas sagen, doch Brunetti ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Die Frage ist nun, Vice-Questore, wo wir die Delinquenten einordnen sollen: unter der Altersangabe, dem Namen oder vielleicht doch nach den Fotos.« Nach einer Pause sagte er in Pattas verwirrtes Gesicht hinein: »Vielleicht könnten wir in dem Fall ja so eine Art Fotokartei einrichten, Dottore.«
Brunetti sah, wie Patta sich straffte, doch bevor er antworten konnte, fiel dem Commissario ein Fall ein, über den seine Beamten sich erst an diesem Morgen beschwert hatten. »Einer der Jungs wurde in den letzten zehn Tagen sechsmal festgenommen, und die Fotos sind alle identisch, aber wir haben ...« - er sah hinunter auf die Papiere, die er Signorina Elettra hatte geben wollen und die rein gar nichts mit dem jugendlichen Straftäter zu tun hatten, von dem die Rede war - »... wir haben sechs verschiedene Namen und vier verschiedene Altersangaben protokolliert.« Er setzte sein unterwürfigstes Lächeln auf. »Also hofften wir, Sie könnten uns sagen, wo wir ihn einordnen sollen.«
Falls der Commissario es darauf angelegt hatte, Patta auf die Palme zu bringen, so sah er sich enttäuscht. Das Äußerste, was er erreichte, war, daß der Vice-Questore, das Kinn in die Hand gestützt, Brunetti fast eine Minute lang fixierte. »Es gibt Situationen, Commissario«, sagte er dann, »in denen Sie meine Geduld auf eine sehr harte Probe stellen.« Hier stand er auf. »Im übrigen muß ich jetzt in eine Sitzung.«
Mit seiner otterngleichen Geschmeidigkeit sowie dem zur Schau getragenen Kompetenz- und Autoritätsgehabe beeindruckte Patta den Commissario immer wieder; so auch jetzt. Der Vice-Questore fuhr sich durch das nach wie vor dichte silbergraue Haar, ging zu dem armadio an der Wand und holte einen leichten Überzieher heraus. Nachdem er sich den weißen Seidenschal, den er aus einem Ärmel zog, um den Hals geschlungen hatte, schlüpfte er in den Mantel. An der Tür drehte er sich noch einmal nach Brunetti um, der vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten sitzen geblieben war. »Wie ich schon sagte, Commissario, alle erforderlichen Instruktionen sind in der Weisung des Ministeriums unmißverständlich festgelegt.« Und weg war er.
Aus reiner Neugier beugte Brunetti sich über den Tisch und griff nach Pattas Englischbuch. Er fand die üblichen betexteten Fotostrecken zum Thema »Boy Meets Girl« oder umgekehrt, wobei ihm auffiel, wie gewissenhaft sich einer beim anderen erkundigte, wo man herstammte und wer alles zur Familie gehörte, bevor der Junge das Mädchen fragte, ob er sie auf eine Tasse Tee einladen dürfe. Brunetti legte das Buch zurück.
Draußen im Vorzimmer saß Signorina Elettra an ihrem Schreibtisch. Inzwischen hatte sie Zeit gehabt, wieder halbwegs ins Gleichgewicht zu kommen. »Does this bus go to Hammersmith?« fragte Brunetti, ohne eine Miene zu verziehen.
Signorina Elettra wechselte aus Dantes Welt in die des Alten Testaments: Ihr Gesicht, das eben noch Francescas Verzückung widergespiegelt hatte, glich jetzt aufs Haar dem der fliehenden Eva auf einem der zahlreichen mittelalterlichen Fresken. Seinen englischen Satz parierte sie im venezianischen Dialekt, den sie ihm gegenüber höchst selten benutzte. »Wenn Sie sich nicht in acht nehmen, Dottore, bringt dieser Bus Sie direkt nach remengo.«
Wo lag eigentlich dieses remengo?, überlegte Brunetti. Gleich den meisten Venezianern war er schon unzählige Male hingeschickt worden und hatte seinerseits genug Leute dorthin entsandt, ohne je darüber nachzudenken, wie dieser Verbannungsort zu erreichen sei: ob zu Fuß, per Boot oder, in diesem Fall, mit dem Bus. Und handelte es sich dabei um etwas so Konkretes wie eine Stadt, die großgeschrieben gehörte, oder eher um ein abstraktes Ziel wie die Hölle oder das Verderben, wohin man nur durch Fluch oder Verwünschung gelangte?
»... bringe ich's nicht übers Herz, ihm zu sagen, daß es hoffnungslos ist.« Mit diesen Worten holte Signorina Elettra ihn in die Gegenwart zurück.
»Aber Sie geben ihm trotzdem Englischunterricht?«
»Ich konnte mich eigentlich immer recht gut gegen ihn behaupten«, sagte sie. »Aber als er dann so blind auf seine Chance vertraute, während ich längst wußte, daß man ihn ablehnen würde, da machte ihn das irgendwie wehrlos. Und jetzt
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