Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
vor: Was er getan hatte, war zu leicht, zu glatt gegangen. Menschen in Bedrängnis auszunutzen war ein Kinderspiel. Er griff nach seinem Cappuccino und trank ein paar Schluck.
»Es geht um die fornace«, begann Tassini. »Soviel werden Sie doch hoffentlich wissen?«
»Natürlich«, sagte Brunetti und neigte scheinheilig den Kopf.
»Die reinste Todesfalle«, fuhr Tassini fort. »Haufenweise Chemikalien: Kalium, Salpetersäure, Fluorid, Kadmium, sogar Arsen. Und wir arbeiten damit, atmen es ein, nehmen es womöglich über die Speisen auf.«
Brunetti nickte. Das war soweit jedem Venezianer bekannt. Aber nicht einmal Vianello hatte je behauptet, daß die Arbeiter auf Murano nennenswerten Risiken ausgesetzt seien. Und wenn einer darüber Bescheid wußte, dann Vianello.
»Darum ist es passiert«, sagte Tassini.
»Was denn, Signore?«
Tassinis Pupillen verengten sich, und Brunetti las geballtes Mißtrauen in seinem Blick. Trotzdem antwortete er: »Das mit meiner Tochter.«
»Emma?« knüpfte Brunetti nahtlos an. Und fast mit Selbstekel erfüllt, sagte er noch: »Armes kleines Mädchen.«
Geschafft: Jetzt hatte er Tassini in der Tasche. Man sah förmlich, wie alle Skepsis, alles Mißtrauen und alle Zurückhaltung aus seiner Miene wichen. »Darum ist es passiert«, beteuerte Tassini inbrünstig. »Wegen all diesem Giftkram. Jahrelang habe ich dort gearbeitet und das Zeug eingeatmet, es angefaßt, meine Kleidung damit besudelt.« Er preßte die geballten Fäuste aneinander. »Darum schreibe ich weiter diese Briefe, auch wenn sie keine Beachtung finden.« Das Gesicht, mit dem er zu Brunetti aufsah, war auf einmal ganz weich, sei es vor Hoffnung oder Liebe oder einem Gefühl, das Brunetti lieber nicht ergründen mochte. »Sie sind der erste, der mir sein Ohr leiht.«
Der nächste Satz kostete Brunetti Überwindung. »Schildern Sie mir, um was es geht.«
»Also, ich habe sehr viel gelesen«, begann Tassini. »Eigentlich lese ich die ganze Zeit. Ich habe einen Computer und surfe im Internet, und dann habe ich mir Chemiebücher besorgt und welche über Vererbungslehre. Da steht alles drin, schwarz auf weiß.« Mit der linken Faust schlug er dreimal auf den Tisch und wiederholte: »Schwarz auf weiß.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Diese Stoffe, insbesondere die Mineralien, greifen das Erbgut an. Und wenn die Gene einmal defekt sind, können wir die Schädigung auf unsere Kinder übertragen. Defekte Gene! Sie kennen Auszüge meiner Briefe, also wissen Sie auch, was ich beschrieben habe. Und wenn Sie die medizinischen Gutachten sehen, werden Sie erfahren, was meiner Kleinen nach Ansicht der Ärzte fehlt.« Er schaute Brunetti an. »Haben Sie die Fotos gesehen?«
Obwohl Brunetti dem Kind selbst begegnet war und also hätte weiterlügen können, brachte er es nicht über sich: alles andere ja, nur das nicht. »Nein.«
»Nun denn«, sagte Tassini, »ist vielleicht auch besser. Außerdem wissen Sie doch, was los ist, dazu brauchen Sie die Fotos nicht.«
»Und die Ärzte? Was sagen denn die?«
Tassinis Euphorie war jäh verflogen; die Erwähnung der Ärzte katapultierte ihn offenbar ins Land der Ungläubigen zurück. »Die wollen keine Stellung beziehen.«
»Wieso nicht?«
»Das fragen Sie noch? Sie haben doch gesehen, was in Marghera passiert ist: die Proteste und die Demonstranten, die verlangten, man solle die ganzen Fabriken schließen. Stellen Sie sich vor, was los wäre, wenn die Zustände auf Murano bekannt würden.«
Brunetti nickte.
»Jetzt verstehen Sie, warum die lügen müssen, nicht wahr?« Tassinis Erregung wuchs mit jedem Satz. »Ich habe versucht, mit den Leuten in der Klinik zu reden, damit sie Emma testen. Und mich. Ich weiß, was ihr fehlt, warum sie so geworden ist. Die Ärzte bräuchten nur den richtigen Test zu finden, einen, der das Gift nachweist, das ich und mein Kind in uns tragen, und schon wüßten sie, was los ist. Aber sobald sie die Wahrheit über Emma rauslassen würden, müßten sie sich auch um all die anderen Schadensfälle kümmern, um all die Menschen, die erkrankt, und um die, die gestorben sind.« Wieder diese Inbrunst in seiner Stimme, die um Verständnis und Zustimmung warb.
Brunetti erkannte zu spät, daß er sich zwar in diese Sache hatte hineinmanövrieren können, aber nun nicht wußte, wie er da wieder herauskommen sollte.
»Und Ihr Chef?« »De Cal?«
»Glauben Sie, er weiß Bescheid?«
Wieder wechselte Tassinis Gesichtsausdruck, und seine Lippen formten sich zu einem
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