Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
er den Mann getäuscht, ihn dazu verführt hatte, über seine Tochter zu sprechen. Wer konnte schon ermessen, was der arme Teufel wegen der Kleinen durchmachte? Und was der Anblick des gesunden Zwillingsbrüderchens bei ihm auslöste: Erleichterung darüber, daß wenigstens eins der Kinder nicht behindert war? Oder war die vitale Gesundheit des Knaben nur ein Teil des täglichen Martyriums, das der unheilbare Zustand der kleinen Emma für den Vater bedeutete?
Brunetti war weder religiös noch abergläubisch, und doch hätte er, wenn ihm nur die passende Gottheit eingefallen wäre, ihr freudig seinen Dank dafür entrichtet, daß seine Kinder gesund und wohlauf waren. So aber beschlich ihn immer wieder eine leise Bangigkeit, ob ihr Glück auch anhalten würde, und er hörte nie auf, sich um sie zu sorgen. Eine Eigenart, die er manchmal günstig bewertete und als seine feminine Seite ansah; dann wieder verurteilte er sie als ein Zeichen von Feigheit, das ihn weibisch mache. Paola hingegen, deren scharfe Zunge ihn sonst gewiß nicht schonte, hatte sich über diese Schwäche noch nie lustig gemacht, woraus man schließen durfte, daß sie ihr als Wesensmerkmal ihres Mannes erschien und folglich tabu war.
Diese unliebsamen Gedanken verfolgten Brunetti bis zur Questura, und um sie endlich abzuschütteln, begab er sich unverzüglich in Signorina Elettras Büro. Vielleicht war der Vice-Questore ja auf eine neue Direktive zum Umgang mit rückfälligen jugendlichen Straftätern gestoßen.
Als er eintrat, lächelte Elettra ihm entgegen und fragte: »Hat Vianello es Ihnen ausgerichtet?«
»Was denn?«
»Na, daß Sie nach Ihrer Unterredung mit Signor Tassini zu mir kommen sollten.«
»Nein. Mir hat keiner was gesagt. Was haben Sie denn für mich?«
Signorina Elettra wedelte stolz mit einem Bündel Akten, legte den Stapel dann auf den Schreibtisch zurück und fing an, ihn durchzublättern, wobei sie jedes Dokument einzeln kommentierte. »Das Protokoll über den aufgehobenen Erlaß zur Festnahme von Signor De Cal; Ribettis Führerscheinantrag und sein Auszug aus dem Verkehrsregister - das einzige, was wir über ihn haben; ein Straferlaß gegen Bovo wegen tätlichen Angriffs, liegt allerdings sechs Jahre zurück; und Kopien der Eingaben, die Tassini seit über einem Jahr macht, nebst den Krankenakten seiner Frau und seiner Tochter.«
Als Signorina Elettra geendet hatte, lagen immer noch etliche Papiere auf dem Tisch. »Und der Rest?« fragte Brunetti.
Verschämt lächelnd blickte sie auf. »Kopien von De Cals Steuererklärungen der letzten sechs Jahre. Wenn ich einmal anfange zu graben, kann ich mich nur schwer bremsen.« Ein weniger scharfsinniger Beobachter hätte ihr verlegenes Grienen wohl für aufrichtige Zerknirschung gehalten.
Brunetti nickte zum Zeichen, daß auch er für den Kitzel des Jagdfiebers empfänglich war, und Elettra fuhr fort: »Am spannendsten sind die Krankenakten, besonders im Zusammenhang mit Tassinis Briefen.«
»Wollen Sie mir referieren, was drinsteht«, fragte Brunetti sachlich, »oder soll ich die Briefe lesen, und wir vergleichen anschließend, ob sie mir genauso aufschlußreich erscheinen wie Ihnen?«
»So wäre es wohl am besten«, sagte Signorina Elettra und reichte ihm den Stapel über den Tisch. »Aber wenn wir sie nachher gemeinsam durchgehen, komme ich lieber nach oben. Der Vice-Questore wäre sicher nicht erbaut, uns hier bei der Besprechung eines nicht existenten Falles anzutreffen.«
Brunetti bedankte sich, nahm die Akten entgegen und ging hinauf in sein Büro. Obwohl er Elettras Urteil vertraute, demzufolge die ersten Unterlagen nicht sonderlich ergiebig waren, las er sie trotzdem durch und kam zum gleichen Ergebnis wie sie. Der Polizeibericht entlastete De Cal vom Vorwurf eines gewalttätigen Übergriffs; in Bovos Fall war es genau umgekehrt, aber auch der verlief im Sande, als die gegnerische Partei ihre Anzeige zurückzog; und Ribetti war laut Verkehrsregister ein untadeliger Autofahrer.
Als nächstes wandte Brunetti sich den medizinischen Gutachten zu, die mit etlichen Randbemerkungen versehen waren. Über der ersten stand in Signorina Elettras Handschrift: »Von Barbara durchgesehen.« Elettras Schwester war als Ärztin sicher in der Lage, klinische Diagnosen zu deuten, und nach den engzeiligen Bleistiftnotizen zu schließen, hatte sie die Befunde gründlich geprüft.
Die Aufzeichnungen erzählten eine bittere Geschichte. Am Anfang stand eine schwangere Frau, die mit ihrem
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