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Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Mann übereingekommen war, daheim zu entbinden. Auch als sie erfuhren, daß aus dem erwarteten Kind Zwillinge werden und dadurch die Risiken einer Hausgeburt steigen würden, beharrte das Ehepaar auf seinem Entschluß. Neben den Einträgen über die gynäkologischen Untersuchungen war mit Bleistift »tutto normale« vermerkt. Zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin kam es jedoch zu einem unplanmäßigen Gynäkologenbesuch, bei dem ein Kaiserschnitt empfohlen, aber »von der Patientin abgelehnt« wurde. Dazu am Rand ein einsames Ausrufezeichen.
    Es folgte eine zweiwöchige Pause, und als Brunetti umblätterte, sah er sich zwei Babies gegenüber, von denen allerdings eines zusammen mit der Mutter auf der Intensivstation lag. Die Randnotiz: »Vorschriftsmäßiges Protokoll des nachts 3 Uhr 17 eingegangenen Notrufs siehe Anlage« führte Brunetti zur letzten Seite, wo im Telegrammstil das Telefonat festgehalten war sowie der um 3 Uhr 21 erfolgte Start des Ambulanzbootes. Als die Rettungskräfte siebzehn Minuten später die angegebene Adresse auf Murano erreichten, hatte Signora Sonia Tassini das erste Baby bereits zur Welt gebracht; das zweite aber steckte im Geburtskanal fest. Die Ambulanz traf um 4 Uhr 16 im Ospedale Civile ein, in Anbetracht der Strecke, die sie zurücklegen mußten, eine beachtliche Leistung.
    Brunetti blätterte zurück zu den medizinischen Befunden. Die zweite Entbindung, per Kaiserschnitt, wurde als schwierig für Mutter und Kind beschrieben; zudem war das Baby offenbar während der letzten Minuten der Geburt von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten.
    Sonia Tassini verbrachte über zwei Wochen im Krankenhaus. Aus der Intensivstation war sie zwar bereits am fünften Tag entlassen worden, aber das zweite Kind, ein Mädchen, das auf den Namen Emma getauft wurde, wurde vier Tage länger dort behalten und kam anschließend zu Mutter und Bruder auf die Wöchnerinnenstation, wo alle drei eine weitere Woche zur Beobachtung verblieben. Bei der Entlassung wies man die Mutter an, die kleine Tochter alle vierzehn Tage zur Überwachung ihrer körperlichen und neurologischen Entwicklung in der Klinik vorzustellen.
    Im ersten halben Jahr befolgten die Tassinis diese Anordnung, sträubten sich hingegen, mit den verschiedenen sozialen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, die dazu da waren, Menschen in ähnlicher Lage zu helfen. Bei der Wendung »in ähnlicher Lage« murmelte Brunetti: »Gesù bambino«, und schlug die Seite um. Gemessen an gleichaltrigen Kindern blieb das kleine Mädchen im Wachstum zurück; ein Defizit, das sie ihr Leben lang nicht aufholen würde. Das ganze Ausmaß ihrer Behinderungen könne zwar erst im Laufe der Zeit diagnostiziert werden, aber von den Ärzten, die sie untersuchten, zweifelte keiner daran, daß die Schädigung durch mangelnde Sauerstoffversorgung des Gehirns bei der Geburt verursacht und irreversibel sei.
    Wegen der aufwendigen Betreuung der kleinen Emma übersiedelten die Tassinis, als die Kinder sechs Monate alt waren, nach Castello, in die Wohnung von Sonia Tassinis verwitweter Mutter. Während Signora Tassini ihre Tochter von da an nicht mehr zu den Untersuchungen in die Klinik brachte, begann ihr Mann gleichzeitig die Polizei und verschiedene andere städtische Einrichtungen mit seinen Briefen zu bombardieren. Einige Monate später hatte Signora Tassini sich wegen Depressionen in Behandlung begeben und wurde im Palazzo Boldù betreut. Nach eigenem Bekunden litt sie unter einem erdrückenden Schuldgefühl, weil sie sich dem Beharren ihres Mannes auf einer Hausgeburt gefügt hatte.
    Beigeheftet war ein Bulletin vom Palazzo Boldù, das ihren allmählichen Ausstieg aus der Depression protokollierte. Darin hieß es, die Schuldgefühle seien zwar immer noch vorhanden, lähmten jedoch nicht länger ihren Lebenswillen. Ihr Mann dagegen, so Sonia Tassini, litte nach wie vor unter einem massiven Schuldkomplex, der dazu geführt habe, daß er nun nach einer anderen Ursache für die Behinderung ihres Kindes suche. Eine Zeitlang, sagte seine Frau, habe er die Umweltverschmutzung dafür verantwortlich gemacht oder ihre vegetarische Kost oder ärztliches Versagen und schließlich irgendeinen Defekt der elterlichen Gene. »Klassisches Symptom« lautete die Randbemerkung. Da die Briefe ihres Mannes in den zahlreichen Gesprächen, die Sonia Tassini mit ihrem Therapeuten geführt hatte, gänzlich unerwähnt blieben, schien es fraglich, ob sie überhaupt davon wußte.
    Beinahe erleichtert

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