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Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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wandte Brunetti sich Tassinis Briefen zu. Darin benannte er die schon von Sonia erwähnten wechselnden Feindbilder, tadelte aber auch die Nachlässigkeit der Bootsmannschaft von der Ambulanz sowie des Personals im Kreißsaal. Weiter ging es zu Genen und genetischen Störungen, die sich angeblich durch einen nur eine Straße von ihrer Wohnung entfernten Mobilfunksendemast verschlimmert hätten. Auch der Luft, die von Marghera herüberwehte, gab Tassini zwischenzeitlich die Schuld am Gebrechen seiner Tochter. Bis er anfing, seine Tätigkeit in einer Muraneser Glasmanufaktur dafür verantwortlich zu machen. Was Brunetti auffiel, war die scheinbare Klarheit der frühen Briefe, ihr präziser, überzeugender Stil, untermauert von häufigen Verweisen auf einschlägige Presseberichte und wissenschaftliche Abhandlungen, die seine ständig wechselnden Anschuldigungen stützten.
    Der Schurke, der das Martyrium der Tassinis zu verantworten hatte, glich einem Chamäleon, denn er wandelte sich stetig und zusehends schneller, je mehr Tassini las und seine Nachforschungen durch Internetrecherchen vorantrieb. Aber der Schuldige blieb stets auf Abstand, die Tat kam immer von außen, entsprang niemals seinem eigenen Denken und Handeln. Brunetti wußte nicht, ob er um den Mann weinen oder ihn bei den Schultern packen und schütteln sollte, bis er sich zu seiner Verfehlung bekannte.
    Der jüngste Brief, dessen Datum über drei Wochen zurücklag, kündigte neues Beweismaterial an, das Tassini gerade sammele und bald würde vorlegen können, diesmal gegen zwei Personen, die ihn zum ahnungslosen Opfer ihrer kriminellen Umtriebe gemacht hätten. Er sei, schrieb Tassini, nunmehr in der Lage, seine Behauptungen zu belegen, und bräuchte nur noch zwei »Untersuchungen«, wie er es nannte, durchzuführen, um seinen Verdacht zu untermauern.
    Eine nochmalige Lektüre der Briefe bestärkte Brunetti in dem Gefühl, das ihn schon beim ersten Lesen beschlichen hatte: daß nämlich ihr Stil sich mit der Zeit verschlechterte, daß Tassinis Anliegen nicht mehr klar daraus hervorging und sie zunehmend jenen nebulösen Beschwerdebriefen glichen, mit denen die Polizei sattsam vertraut war. Der Zusammenhang, von dem Signorina Elettra gesprochen hatte, bestand zweifellos darin, daß Tassinis Briefe im gleichen Maße konfuser wurden, wie der Zustand seiner kleinen Tochter sich verschlechterte.
    Nach dem zweiten Durchgang ließ Brunetti die Briefe auf den Schreibtisch sinken. Paola hatte ihm einmal von einem alten Text erzählt, mit dem sie sich während des Studiums befaßt hatte und der nach seinem Helden benannt war: Schwarzmalers Verhängnis. Wie treffend!
    Über dem Inhalt der Papiere hatte er Signorina Elettras Warnung, damit nicht in ihrem Büro zu erscheinen, ganz vergessen; zerstreut raffte er den Stapel zusammen und ging zu ihr hinunter. Falls sie überrascht war, ihn oder vielmehr ihn mitsamt den Akten zu sehen, so ließ sie sich nichts anmerken und sagte nur: »Schrecklich, was?«
    »Ich habe das kleine Mädchen gesehen«, erwiderte Brunetti.
    Hierauf nickte Signorina Elettra, sei es, weil sie das bereits wußte oder ihn ermuntern wollte, ihr jetzt davon zu erzählen.
    »Diese armen, verzweifelten Menschen«, sagte sie.
    Brunetti ließ eine volle Minute verstreichen, bevor er fragte: »Die Briefe?«
    »Er muß die Schuld auf einen anderen abwälzen, nicht wahr?«
    »Seine Frau scheint dieses Bedürfnis nicht zu haben«, gab Brunetti fast scharf zurück. »Ich meine, Signora Tassini sieht ein, daß sie und ihr Mann die Verantwortung tragen für das, was geschehen ist.«
    »Frauen haben eben ...«, begann Signorina Elettra und stockte.
    Brunetti wartete einen Moment, doch als sie weiter schwieg, hakte er nach: »Ja, was haben Frauen?«
    Elettra taxierte ihn mit prüfendem Blick, bevor sie sagte: »Weniger Probleme damit, die Realität zu akzeptieren, glaube ich.«
    »Möglich«, versetzte er und hörte in der eigenen Stimme jenen zweiflerischen Ton, mit dem die Uneinsichtigen auf gesunden Menschenverstand reagieren. Er berichtigte sich mit einem entschiedenen: »Sehr wahrscheinlich«, und Elettras Miene hellte sich auf.
    »Was nun?« fragte sie.
    »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig als abzuwarten, bis er sich meldet und mir diese Beweise liefert, von denen in den Briefen soviel die Rede ist.«
    »Sehr überzeugt klingen Sie aber nicht, Commissario.«
    Mit einem ironischen Lächeln fragte Brunetti: »Ginge es Ihnen anders?«
    »Nun, ich habe nicht

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