Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
mit dem Mann gesprochen und daher auch keine rechte Vorstellung von ihm. Ich kenne nur die Briefe, und die wirken nicht besonders vertrauenswürdig. Zumindest die letzten nicht. Zu Beginn sah das vielleicht noch anders aus.« Sie hielt inne und konnte nach längerem Schweigen nur wiederholen: »Diese armen, verzweifelten Menschen.«
»Von wem sprechen Sie?« ließ sich unversehens Pattas Stimme hinter Brunetti vernehmen.
Sie hatten beide den Vice-Questore nicht kommen hören, doch Signorina Elettra faßte sich als erste. Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete sie: »Von den extracomunitari, die eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen und, obwohl sie die Gebühr entrichtet haben, niemals einen Bescheid bekommen.«
»ich muß doch sehr bitten.« Patta, der auf der Schwelle seines Zimmers stehengeblieben war, sah Signorina Elettra an, zeigte aber mit dem Finger erst auf Brunetti und dann auf die Tür zu seinem Büro. »Wenn sie sich bewerben, müssen sie Geduld haben. Genau wie jeder andere, der ein Gesuch an eine Behörde stellt.«
»Drei Jahre?« erkundigte sie sich spitz.
Das saß. »Nein, so lange nicht.« Patta war schon auf dem Weg zurück in sein Zimmer, drehte sich aber noch einmal um. »Wer hat denn drei Jahre warten müssen?«
»Die Frau, die bei meinem Vater saubermacht, Vice-Questore.«
»Drei Jahre?«
Elettra nickte.
»Und warum hat es so lange gedauert?«
Brunetti war gespannt, ob sie mit der naheliegendsten Antwort parieren würde, nämlich daß genau dies auch sie gern gewußt hätte; doch Elettra wählte den diplomatischen Weg und sagte: »Ich kann es mir nicht erklären, Vice-Questore. Sie hat vor drei Jahren den Antrag gestellt, die Gebühr bezahlt und seither nichts mehr gehört. Ihre letzte Hoffnung war, daß sie unter die jüngste Amnestie für die clandestini fallen würde, aber sie wurde einfach übergangen. Schließlich fragte sie mich, ob sie das ganze Verfahren wiederholen, einen neuen Antrag stellen und die Gebühren ein zweites Mal entrichten solle.«
»Und was haben Sie ihr geantwortet?«
»Ich konnte ihr keinen Rat geben, Vice-Questore. Es wäre eine Menge Geld für sie - eine Menge Geld für jeden -, und falls auch nur die geringste Aussicht besteht, daß ihr erster Antrag bewilligt wird, wurde sie sich nicht noch einmal so in Unkosten stürzen wollen. Eine wirklich schwierige Lage für die Frau und ihren Mann - darum habe ich dem Commissario gegenüber vorhin von ›armen, verzweifelten Menschen‹ gesprochen.«
»Verstehe.« Patta zitierte den wartenden Brunetti mit einem Wink in sein Büro und wandte sich dann noch einmal an Signorina Elettra. »Geben Sie mir den Namen dieser Frau, wenn möglich auch ihre Aktennummer, und ich will sehen, was ich tun kann.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Vice-Questore«, sagte Elettra, und es klang aufrichtig.
Sobald er mit Brunetti allein war, kam Patta ohne Umschweife zur Sache. »Was sind das für eigenmächtige Touren, die Sie da auf Murano veranstalten?«
Sollte er leugnen, daß er auf der Insel gewesen war? Sich erkundigen, woher Patta davon wußte? Die Frage wiederholen, um Zeit für eine angemessene Antwort zu gewinnen? De Cal? Fasano? Wer auf Murano hatte ihn an Patta verpfiffen?
Am Ende entschied Brunetti sich für die Wahrheit. »Eine mir bekannte Frau auf Murano«, begann er - was sich anhörte, als kenne er die Frau schon länger, und dem Commissario bewies, daß er einfach außerstande war, Patta gegenüber bei der Wahrheit zu bleiben -, »hat sich an mich gewandt, weil ihr Vater ihren Mann bedroht. Also nicht ihn direkt, sondern gegenüber Dritten. Und nun wollte sie wissen, was ich davon halte, ob ich Grund zu der Befürchtung sähe, ihr Vater könne ernst machen.«
Brunetti beobachtete Patta, der das Gehörte abwog, und fragte sich gespannt, wie sein Vorgesetzter auf diese ungewohnte Offenheit reagieren würde. Das übliche Mißtrauen siegte, wie befürchtet. »Aha, das erklärt dann wohl Ihre Teilnahme an einem konspirativen Treffen in einer Trattoria auf Murano, ja?« Patta ergötzte sich ungeniert an Brunettis verblüffter Miene.
Die Wahrheit hatte zwar nicht viel geholfen, aber nachdem Brunetti einmal diesen Kurs eingeschlagen hatte, blieb er dabei. »Mein Informant kennt den Mann, der die Drohungen vorgebracht hat«, erklärte er, froh, daß Patta offenbar nichts von Navarros Verwandtschaft mit Pucetti wußte. Was ihn noch mehr aufatmen ließ, war die Tatsache, daß sein Vorgesetzter Vianellos
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