Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
während er dem maestro hier bei der Arbeit zusah, wurde der vor Brunettis Augen zum einstigen Glasmeister des Vaters, ja, stand alsbald für alle maestri, die sich seit über tausend Jahren in der Glasbläserkunst übten. Und wirklich hätte er, bis auf seine Jeans und die Nikes, jeder beliebigen Epoche seit der Entstehung dieses Handwerks angehören können.
An sich war Brunetti kein großer Ballettfreund, aber in den rhythmischen Bewegungen dieser Männer offenbarte sich ihm eine Schönheit, wie andere sie an einer gelungenen Choreographie bewundern. Den Glasmacherstab emsig weiterdrehend, tänzelte der maestro hinüber zum Schmelzofen, und als er sich mit der linken Seite zum Feuer wandte, sah Brunetti den dicken Handschuh und den wattierten Ärmel, die er zum Schutz gegen die mörderische Hitze trug. Blitzschnell fuhr die canna in die Glut, wobei das Werkstück an ihrer Spitze nicht mehr als einen Zentimeter an dem massiven Türrand vorbeischwebte.
Brunetti trat näher, reckte sich und spähte über den maestro hinweg in die Flammen, aus denen ihm das Inferno seiner Schulzeit entgegenloderte, jener Höllenschlund, mit dem die Barmherzigen Schwestern ihm und der ganzen Klasse gedroht hatten: daß er sie zur Strafe für jedes Vergehen, und sei es noch so gering, verschlingen würde. Weiß, gelb und rot glühte das Feuer, und mittendrin sah Brunetti die kreisende Schale sich verfärben, wachsen, Gestalt annehmen.
Sobald der maestro sie, abermals nur um Haaresbreite an der Tür vorbei, aus dem Ofen gezogen hatte, balancierte er damit zu seiner Werkbank, griff blind nach einer überdimensionierten Pinzette, preßte, wiederum ohne hinzusehen, die Spitze einer Greifbacke gegen die Schale und schnitt unter nimmermüdem Drehen, Drehen, Drehen eine Rille in die Oberfläche. Ein Scheibchen des zähflüssigen Glases schälte sich vom Werkstück ab und segelte zu Boden.
Auf ein für Brunetti unsichtbares Zeichen hin eilte der servente herbei und trug die canna zum Brennofen, während der maestro unter seinen Stuhl langte, eine Flasche hervorholte und sich einen langen Schluck genehmigte. Kaum hatte er die Flasche abgesetzt, da war der servente wieder zur Stelle und übergab ihm die canna mit der frisch erhitzten Schale. Das Zusammenspiel der beiden war so geschmeidig wie das flüssige Glas, das sie bearbeiteten.
Brunetti hörte seinen Namen rufen, und als er sich umwandte, stand Assunta in der Tür. Erst jetzt merkte er, daß ihm das Hemd am Leib klebte und sein Gesicht von Schweißperlen bedeckt war. Er hätte nicht zu sagen gewußt, wie lange er schon dort gestanden und sich von der Schönheit dieser Handwerkerszene hatte verzaubern lassen.
Als er auf Assunta zuging, spürte Brunetti einen plötzlichen Luftzug über seinen schweißnassen Rücken streichen, und ihn fröstelte. »Ich wurde aufgehalten«, sagte er, ohne sich näher zu erklären. »Und auf der Suche nach dir bin ich auf gut Glück hier gelandet.«
Sie winkte lächelnd ab. »Schon gut. Ich war unten am Bootsanleger. Heute ist der Tag, an dem die Säuren und der Schlamm abgeholt werden; da bin ich immer gern dabei, um sicherzustellen, daß richtig abgewogen und berechnet wird.«
Seine Verwirrung war Brunetti wohl anzusehen - zu Zeiten seines Vaters hatte er von derlei nie gehört -, denn Assunta erklärte: »Der Gesetzgeber hat klar geregelt, welche Substanzen wir benutzen dürfen und was danach damit zu geschehen hat. Das ist auch gut so.« Ihr Lächeln wurde weicher, als sie hinzufügte: »Wenn ich so was sage, höre ich mich sicher an wie Marco, aber in diesen Dingen hat er völlig recht.«
»Was für Säuren?« fragte Brunetti.
»Salpeter und Fluorid.« Assunta sah Brunetti an, daß er sich immer noch nicht auskannte, und daher fuhr sie fort. »Wenn wir Glasperlen herstellen, bohren wir für das Loch zum Auffädeln mitten hindurch einen Kupferdraht, der hinterher in Salpetersäure aufgelöst wird. Das Säurebad müssen wir von Zeit zu Zeit auswechseln. Das gleiche gilt für Flußsäure. Die brauchen wir, um die Oberflächen größerer Objekte zu glätten. Mit ›das gleiche‹ meine ich, daß wir in beiden Fällen für die Entsorgung zahlen müssen.«
»Du hast auch noch Schlamm erwähnt?« fragte Brunetti.
»Ja, die Rückstände vom Schleifen, bei der Feinpolitur«, erklärte sie. »Möchtest du's sehen?«
»Mein Vater hat einmal in einer Glasbläserei gearbeitet, aber das ist viele Jahre her.« Brunetti sagte es, um nicht völlig ahnungslos zu
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