Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Pinzetten sowie die scharfen Nahtstellen da, wo verschiedenfarbige Glasstücke zusammengeschmolzen worden waren: alles Mängel, die der Schleifvorgang im Nu beseitigen würde.
So laut, daß er das Knirschen der Scheiben und das Wasserrauschen übertönte, rief er Assunta zu: »Nicht so spannend wie drüben bei den maestri.«
Sie nickte. »Aber genauso wichtig.«
»Ich weiß.«
Brunetti schaute zu den beiden Arbeitern hinüber, sah dann wieder Assunta an und fragte: »Schutzmasken?«
Diesmal zuckte sie die Achseln und schwieg, bis sie ihn wieder hinaus auf den Hof geführt hatte. »Jeder Glasschleifer bekommt pro Tag eine neue Atemmaske, wie vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Der sagt mir nur leider nicht, wie ich die Männer dazu bringe, die Dinger auch zu tragen.« Und ehe Brunetti etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Ich würde sie zwingen, wenn ich's könnte! Aber für sie ist das ein Angriff auf ihre Männlichkeit, darum wehren sie sich so dagegen.«
»Die Kollegen meines Vaters haben damals auch nie welche getragen«, sagte Brunetti.
Resigniert hob Assunta die Arme in die Höhe und wandte sich dem Vordergebäude zu. Als Brunetti sie eingeholt hatte, fragte er: »Ich habe deinen Vater nicht in seinem Büro gesehen. Ist er denn heute gar nicht hier?«
»Er hat einen Arzttermin«, erklärte Assunta.
»Aber ich erwarte ihn noch im Laufe des Nachmittags zurück.«
»Hoffentlich nichts Ernstes.« Brunetti nahm sich vor, Signorina Elettra auf De Cals Krankenakte anzusetzen.
Assunta nickte, dankbar für seinen Zuspruch, äußerte sich aber nicht weiter.
»Also dann will ich mal wieder los«, sagte Brunetti. »Danke für die Führung. Hat eine Menge Erinnerungen wachgerufen.«
»Ich danke dir, daß du dir die Mühe gemacht hast, eigens herzukommen, um mir Bescheid zu sagen.«
»Schon gut, und mach dir keine Sorgen«, erwiderte er.
»Es ist kaum anzunehmen, daß dein Vater eine Unbesonnenheit begeht.«
»Hoffen wir, daß du recht behältst«, versetzte Assunta und schüttelte ihm die Hand, bevor sie kehrtmachte und sich wieder den Werksräumen und ihrer Welt zuwandte.
13
A m nächsten Morgen war es schon nach neun, als Brunetti in die Questura kam. Sein Weg führte ihn als erstes zu Signorina Elettra, denn er hatte vergessen, daß dies der Tag war, an dem sie immer erst nach dem Mittagessen im Büro erschien. Fast hätte er ihr einen Zettel hingelegt mit der Bitte, De Cals Patientenunterlagen ausfindig zu machen, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, wie leicht so eine Nachricht Patta oder Scarpa in die Hände fallen konnte. Also schrieb er nur, sie möge ihn anrufen.
Oben in seinem Zimmer arbeitete er sich durch die aufgelaufenen Akten, warf einen Blick in die Vorschlagsliste für die anstehenden Beförderungen und machte sich dann an ein pralles Dossier vom Innenministerium, einen Leitfaden zu den neuesten Richtlinien bezüglich Festnahme und Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen. Italienisches Recht stand, so schien es, nicht im Einklang mit dem europäischen, das sich wiederum nicht mit der internationalen Gesetzgebung deckte. Brunetti las mit wachsendem Interesse, je deutlicher die Konfusionen und Widersprüche zutage traten.
Der Paragraph zum Thema Verhörmethoden war auffallend kurz gefaßt, als hätte der zuständige Bearbeiter die Aufgabe so rasch wie möglich hinter sich bringen wollen, ohne selbst in irgendeiner Weise Stellung zu beziehen. Der Kommentar wiederholte etwas, das Brunetti schon anderswo gelesen hatte und wonach ausländische Obrigkeiten - die natürlich ungenannt blieben - Foltermethoden während des Verhörs »bis hin zum Grad ernsthafter Mißhandlung« für vertretbar hielten. Brunettis Gedanken schweiften ab, und er versenkte sich in eine grüblerische Betrachtung seiner Schranktüren. »Diabetes oder Knochenkrebs?« fragte er sie, doch die Türen gaben keine Antwort.
Er las die Akte zu Ende, klappte den Ordner zu und schob ihn beiseite. In seinen Anfangsjahren bei der Polizei war noch darüber gestritten worden, ob Gewaltanwendung bei Verhören rechtens oder unrecht sei, und er hatte sämtliche Argumente beider Seiten gehört. Heute feilschte man kaltblütig darum, wie weit die Mißhandlungen gehen dürften.
Archimedes fiel ihm ein: Hatte der nicht, auf seine Erkenntnisse über die Hebelwirkung anspielend, gesagt: »Gebt mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.« Durch Erfahrung und anhand seiner Geschichtsstudien war
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